Berlin. . Der Journalist Benedict Wermter arbeitet als Praktikant in der Charité. Er wird Zeuge schwerer Hygienemängel. Weil er sich schützt, fällt er auf.
Vor der Stationsküche sehe ich Maria Müller* am Kaffeetisch stehen. Sie füllt ein Glas mit Kakao. Maria Müller ist Patientin in der Charité, sie hat einen multiresistenten Keim. Damit sie keine anderen Patienten anstecken kann, wird sie eigentlich in ihrem Zimmer isoliert. Krankenschwestern müssten sie begleiten, wenn sie das Zimmer verlässt. Trotzdem läuft sie frei auf der Station herum. Sie benutzt auch die Behindertentoilette auf dem Gang. Nachts, erzählen die Schwestern, sei sie oft stundenlang im ganzen Haus unterwegs.
Bis zu 15.000 Menschen sterben nach offiziellen Zahlen jährlich in deutschen Krankenhäusern an vermeidbaren Infektionen. Tatsächlich sind es deutlich mehr Opfer, wie Recherchen von FUNKE-Mediengruppe, ZEIT, ZEIT ONLINE und CORRECT!V belegen. Als verdeckter Reporter bin ich zwölf Tage lang auf der Gastroenterologie der Charité im Berliner Wedding unterwegs. Auf dieser Station liegen vor allem Patienten mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts oder der Leber. Ich will herausfinden, wie die hygienische Versorgung im größten Universitätsklinikum Europas funktioniert.
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Ran an die Patienten – ohne Einweisung in Pflege und Hygiene
Ich hatte mich als Praktikant beworben und kann sofort anfangen. Offenbar brauche ich keine offizielle Einweisung in Pflege und Hygiene. Auf meiner Station spiele ich den tollpatschigen Spätzünder, der um einen Ausbildungsplatz in der Krankenpflege kämpft. Knapp drei Wochen später werte ich aus, was ich erlebt habe.
Ich habe zahlreiche verkeimte Patienten frei auf der Station herumlaufen sehen. Das Personal hat sich und andere nicht immer vor gefährlichen Keimen geschützt. Viele meiner Kollegen wirkten in ihrem Arbeitsalltag überfordert. Gleichzeitig habe ich Besucher und Patienten oft schlecht informiert erlebt. Viele infizierte Patienten habe ich auf die Keime angesprochen. Die meisten hatten entweder keine Ahnung oder verdrängten das Problem. Die Charité selbst antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf eine detaillierte Stellungnahme.
Unkontrollierter Direktkontakt mit Keimträgern
Den ersten Montagmorgen beginne ich um 6.30 Uhr im Schwesternzimmer, meine erste Morgenbesprechung. Worte wie Teerstuhl oder Sammelurin geben einen Ausblick auf die kommenden zwölf Frühschichten. Meine größte Sorge sind die offenen Wunden. An den kommenden Tagen teile ich bis 14 Uhr Essen aus und fülle hunderte Spritzen, Kanülen und Katheter in passende Behälter. Dazu messe ich Blutzucker und Vitalwerte wie Druck und Puls. Die ganze Zeit arbeite ich unkontrolliert in direktem Kontakt mit den Patienten. Auch mit den Keim-Patienten in den bis zu sieben isolierten Zimmern.
In der ersten Woche lerne ich ein freundliches, türkischstämmiges Ehepaar kennen. Der Mann trägt einen multiresistenten Keim auf der Haut. Aus der Morgenbesprechung weiß ich: Seine Frau übernachtet trotzdem mit ihm im isolierten Zimmer. Die beiden laufen oft an mir vorbei zum Kaffeetisch – ohne sich die Hände zu desinfizieren. Ich frage ihn, welchen Erreger er hat. Er weiß es nicht. Er kann mir auch nicht sagen, woher der Keim kommt. Und offenbar ist ihm ebenso wenig klar, wie er sich nun verhalten soll. Die meisten isolierten Patienten bekommen wie er Besuch von Freunden und Verwandten.
Keiner sagt Bescheid vor dem Gang in den Isolationsbereich
Eigentlich müssen sich die Gäste vor dem Eintritt in die Isolation beim Personal melden. Nicht ein einziges Mal beobachte ich solch eine Meldung. An die Besucher sollen auch Informationszettel zu den Keimen ausgeteilt werden. Die Flyer warten dutzendfach kopiert in einem Hygieneordner auf ihren Einsatz.
„Es ist keine schriftliche oder mündliche Bestätigung des Patienten erforderlich, über Hygiene und Keime aufgeklärt worden zu sein“, sagt Peter Walger, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. Gleiches gilt für die Besucher. Doch hier geht es nicht um Bürokratie, sondern um Schutz. Die Erfahrung aus anderen Krankenhäusern lehrt, dass sich das Verhalten von Patienten und Besuchern verändert, wenn sie verstehen, warum schützende Maßnahmen notwendig sind.
Auf einem Schuh steht „kranke Schwestern“
Von den Krankenschwestern meiner Station bin ich zunächst tief beeindruckt: Die harte Arbeit und das frühe Aufstehen schweißt die Gruppe zusammen. Ich beobachte die „kranken Schwestern“ – so lese ich es auf einem Paar Schuhe –, wie sie abseits des Schichtdienstes Partyschiffe organisieren für Feiern mit befreundeten Stationen.
Donnerstag, Tag vier. Während des Frühstücks spreche ich die Schwestern auf die Keime an. Eine erzählt mir, dass sich kleinere Kliniken und Reha-Zentren isolierte Räume nicht leisten könnten und die Problematik einfach ignorieren. Doch auch auf meiner Station reden die Schwestern nicht gerne über die Keime, obwohl es verpflichtende Hygiene-Fortbildungen gibt. Das Problem wird tabuisiert, dabei müsste es ein Dauerthema sein.
Eine Million Infektionen pro Jahr – viele vermeidbar
Nach Schätzungen infizieren sich in deutschen Krankenhäusern eine Million Menschen jedes Jahr mit Keimen, darunter Zehntausende Patienten mit multiresistenten Erregern, sagen Fachleute. Viele dieser Infektionen wären durch ganz einfache Dinge vermeidbar: Eine regelmäßige und gründliche Reinigung und Desinfektion der Zimmer beispielsweise, und eine Isolation von infizierten Patienten.
Multiresistente Erreger geraten häufig durch offene Wunden, einen Katheter oder eine Operation in die Blutbahn. Sind die Keime im Blut, ist der Patient infiziert. Weil die Keime resistent sind gegen die allermeisten Antibiotika, sterben sie bei einer Behandlung nicht ab, sondern fressen sich durch krankes Gewebe oder vergiften das Blut. Vor allem für schwache, alte und sehr junge Menschen sind multiresistente Erreger in Krankenhäusern lebensgefährlich.
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Nach sechs Tagen kommt der Hygieneordner
Nach sechs Tagen bekomme ich den etwa 100 Seiten dicken Hygieneordner zur Ansicht. Da habe ich schon 50 Stunden ohne Hygieneeinführung direkt mit Patienten gearbeitet. Ich lerne: Bei direktem Kontakt mit isolierten Patienten und bei Kontakt mit seiner „unmittelbaren Umgebung“ muss das Personal Schutzkleidung tragen, Kittel und Handschuhe. Das gilt auch für die Besucher.
Die unmittelbare Umgebung ist alles, was der Patient vom Bett aus erreichen kann. Den Mund-Nasen-Schutz müssen wir tragen, wenn wir mit einer „möglichen Kontamination“ rechnen müssen, zum Beispiel bei niesenden Patienten. Oder wenn der Patient selbst vor unseren Keimen geschützt werden muss. Die unmittelbare Umgebung des isolierten Patienten muss zudem täglich mit Desinfektionsmitteln gereinigt werden.
„Sie sind der Einzige, der immer Mundschutz trägt“
Wenig später stehe ich mit Mundschutz, Kittel und Handschuhen vor Jochen Schmidt. Er liegt in einem isolierten Zimmer. Schmidt sagt, er habe sich bei einer Herztransplantation in der Charité mit MRSA infiziert, dem bekanntesten multiresistenten Keim. Er muss Immunsuppressiva nehmen: Medikamente, die das Abwehrsystem ausschalten und dem Körper helfen, das neue Herz zu akzeptieren. Schmidt ist deshalb extrem schwach und anfällig für neue Keime.
Während unserer Unterhaltung betritt eine Schwester das isolierte Zimmer – ohne Mundschutz, ohne Schutzkleidung. Schmidt beschwert sich. „Niemand hat mir erklärt, was das für Keime sind. Jetzt habe ich mehrere Keime, aber ich weiß überhaupt nicht Bescheid.“ Das Personal halte sich überhaupt nicht an die Vorschriften. „Wenn jemand das Zimmer betritt, ist die Schutzkleidung mal so, mal so. Sie sind der Einzige, der immer den Mundschutz trägt.“
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Küsschen links, Küsschen rechts mit der Keimträgerin
Eine Schwester sagt mir, ich solle mich erst um die Keime kümmern, wenn ich die Berufswahl getroffen habe. Es kämen so schnell so viele neue Erreger hinzu, dass niemand genau wisse, was gerade los ist. Eine andere Schwester sagt, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen: „So schnell geht das nicht. Nur die Patienten, da haben es manche heute nicht und morgen schon. Die Gefahr, sich anzustecken, ist gering. Viel wichtiger ist es, die Keime nicht auf der Station zu verteilen.“
In der zweiten Woche wird eine Patientin von einigen Krankenschwestern wie eine alte Freundin begrüßt. Küsschen links, Küsschen rechts. Sie kennt sich im Arbeitsraum der Schwestern besser aus als ich und weiß, in welchem Schrank die besten Pflaster liegen. Von dort holt sie sich auch den Ganzkörperspiegel und stellt ihn in ihr mit Tulpenduft parfümiertes Zimmer. Später stelle ich fest, dass auch sie isoliert wird. Sie winkt ab, als ich sie darauf anspreche. Nicht so wichtig. Andere Träger von Keimen empfinden die Isolation ebenfalls als lästig und unangenehm. Sie interessieren sich wenig für die Risiken, die mit den Keimen einhergehen.
VRE-Patientin rennt nach Herzenslust quer durchs Haus
Immer wieder begegne ich in diesen Tagen Maria Müller, der kakaotrinkenden Keimpatientin. Mit weißem Turban, eingefallenen Augen und Bademantel schleicht sie über den Gang. Ihr Körper ist tätowiert, die Stimme rau. Sie erzählt von Drogen, Krebs, Leberproblemen und Diabetes. Die Frau ist Anfang 40. In einem Abszess unter der Gürtellinie hat sie den ansteckenden, multiresistenten Keim VRE.
Maria Müller geht in einen unserer Arbeitsräume und legt ihren Bademantel auf den Kopierer. Vom Stapel auf dem Gang nimmt sie sich frische Wäsche. Dann sitzt sie auf den Holzstühlen im Eingang der Station und hangelt sich auf dem Rückweg in ihr Zimmer am Geländer auf dem Gang entlang. All das, ohne sich die Hände zu desinfizieren. Schutzkleidung trägt sie ohnehin nicht. In ihrem isolierten Zimmer stapeln sich am Bett Bücher und Süßigkeiten. Die Putzfrau sehe ich dort immer nur den Boden schrubben.
Die Ärzte? „Die sind über alles erhaben“
Es ist der zweite Donnerstag. Immer häufiger fallen mir inzwischen Fehler auf: Situationen, in denen meine Kollegen keine Schutzkleidung tragen, sich nicht die Hände desinfizieren. Eine Studie aus Frankreich hat gezeigt, dass Keime in Krankenhäusern vor allem über das Personal übertragen werden. Der wegen MRSA isolierte, extrem geschwächte Jochen Schmidt beschwert sich bei mir über nachlässige Ärzte. „Sie glauben doch nicht, dass die sich einen Mundschutz überziehen. Die sind über alles erhaben.“
Seine Worte begleiten mich nach der Schicht in unser Recherchebüro, wo ich meine Erlebnisse jeden Nachmittag aufschreibe und mit den Kollegen diskutiere. Die Bilder der vergangenen Tage folgen mir: Die Auszubildende, die mir das Blutzuckermessen erklärt, trägt selbst keine Handschuhe. Sie desinfiziert weder ihre Hände, noch das Gerät. Andere Schwestern desinfizieren sich nicht die Hände, bevor sie Patienten aus dem Bett helfen. Ich frage eine Krankenschwester, warum sie sich nicht die komplette Schutzkleidung anzieht, wenn sie nahe an einem infizierten Patienten arbeitet. Die Antwort: „Ich habe den Patienten nicht berührt.“ Wann sie sich umkleide, hänge vom Kontakt mit dem Patienten und vom Keim ab.
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„Manche schützen sich, manche nicht“
Eine Auszubildende sagt dagegen: „Wir müssen uns vor jedem isolierten Zimmer den Schutz anziehen. Manche machen das und manche nicht. Das ist das Problem.“ Eine andere Krankenschwester beobachte ich in mehreren Isolierzimmern komplett ohne Schutzkleidung. Auf meine Frage, ob sie sich dort nicht zumindest die Handschuhe anziehen sollte, antwortet sie: „Na, eigentlich immer, weißt du doch.“
Erst jetzt, gegen Ende meiner Zeit als Hilfspfleger, erklären mir die Schwestern wichtige Hygiene-Regeln: „Die Manschette vom Blutdruckmesser, die dem Patienten um den Arm gebunden wird, sollte man gelegentlich desinfizieren. Solche Gegenstände darf man nicht auf das Bett der Patienten legen.“
Theorie und Praxis – zwei unterschiedliche Welten
In den zwölf Tagen hat mir jedoch niemand gezeigt, wie ich mich zu desinfizieren habe. Obwohl „Handdesinfektion die entscheidende Maßnahme ist, um einen Transfer von Keimen auf den Patienten zu verringern“, wie mir Hygieniker Walger erläutert. Und auch das muss man richtig machen: Das Desinfektionsmittel muss mindestens 30 Sekunden einwirken.
Zu umherstreunenden Patienten wie Maria Müller hat Walger ebenfalls eine Meinung. „Isolierte Patienten dürfen das Zimmer nicht alleine und unkontrolliert verlassen“, sagt der Experte. Der Ausgang sei zwar nicht verboten, aber streng geregelt. Die Patienten müssten informiert werden und die Desinfektionsregeln beigebracht bekommen. So weit die Theorie. Während meiner zwölf Tage in der Charité habe ich davon nichts gesehen.
„Ich würde die ins Zimmer sperren“
„Ich würde die ins Zimmer sperren“, sagt eine Schwesternschülerin. Das ist schnell gesagt. Aber ein Krankenhaus ist kein Gefängnis. Niemand darf Patienten so einfach ihrer Freiheit berauben. An meinem letzten Tag komme ich mittags am Stationsbüro vorbei und höre die Schwestern diskutieren: Was muss passieren, wenn ein isolierter Patient sein Zimmer verlässt? „Die Katze beißt sich in den Schwanz, wenn wir uns die Pelle anziehen sollen und die müssen sich nur die Hände desinfizieren, wenn die auf dem Gang sind“, sagt eine Schwester.
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Zeitdruck, Routine, Bequemlichkeit
„Am besten wäre es, wenn alle Patienten, Personal und Besucher immer die Schutzkleidung tragen würden“, sagt eine andere, auch wenn sie wisse, dass das zeitlich eigentlich nicht drin sei. Die Dritte im Bunde beharrt darauf, dass sich diese Patienten lieber die Hände desinfizieren sollen, statt Handschuhe zu tragen: „Wer weiß, wo die mit den Handschuhen überall dran waren.“
Als ich die Station verlasse, bleibt bei mir das Gefühl zurück, dass viel zusammenspielt bei der Frage, wie im Krankenhaus mit multiresistenten Keimen und der Hygiene umgegangen wird: Zeitdruck, Routine, Bequemlichkeit, Sorglosigkeit. Und dass die Unsicherheit noch immer groß ist, wie man es richtig macht.
* Namen geändert
Über den Autor: Benedict Wermter hat als freier Mitarbeiter bei der WAZ gearbeitet und ist nun Volontär bei CORRECT!V, dem ersten gemeinnützigen Recherchebüro in Deutschland. Eine ausführliche Reportage seiner verdeckten Recherche können Sie unter correctiv.org als kostenfreies eBook herunterladen. Die investigativen Reporter von CORRECT!V arbeiten an langfristigen Recherchen von nationaler Bedeutung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Menschen vor Ort haben. Die Ergebnisse stellt CORRECT!V allen Bürgern kostenfrei zur Verfügung. Das Büro finanziert sich unter anderem durch Mitgliedsbeiträge, die von der Steuer absetzbar sind.