Hagen. Seit einer Bauch-OP im Jahr 2010 trägt Margot G. den gefährlichen MRSA-Keim in sich. Jetzt bräuchte sie eine neue Hüfte - aber kein Arzt will sie operieren. “Kommen Sie wieder, wenn der Keim weg ist“, sagt man ihr. Erst eine Klinik in den Niederlanden verspricht Hilfe. Die Geschichte einer Odyssee.
Margot G. sitzt auf ihrem Sofa und atmet schwer. Ihr Oberkörper wippt vor und zurück, vor, zurück, viermal, fünfmal, sechsmal: „Jetzt!“ Sie drückt sich mit Schwung nach vorne, stemmt sich auf die Hand, die den Stock hält, mit der anderen stützt sie sich auf die Tischkante, kommt ein Stück hoch. Arme und Beine zittern. Ehe sie stürzt, lässt sie sich zurückfallen. Schweiß steht im geröteten Gesicht. „Es klappt nicht“, schnauft sie. Es klappt immer seltener mit dem Aufstehen. „Dabei ist das noch leicht“, sagt sie. „Schlimmer ist das Gehen. Ich kann bald nicht mehr.“
Ihre Hüfte ist verschlissen, seit Jahren schon. Dringend braucht Margot G. eine neue. Denn sie wird noch gebraucht. Ihr Mann leidet unter schweren Depressionen. Er ist zum Pflegefall geworden, damals, als sie unter Schläuchen und Atemmaske begraben im Intensivbett lag und die Ärzte ihm sagten: „Finden Sie sich damit ab, dass ihre Frau nicht mehr zurückkommt.“ Am Krankenbett ist Helmut G. damals zusammengebrochen. Anderthalb Jahre verbrachte er danach in der Psychiatrie. Immer noch tut er keinen Schritt ohne seine Frau. Ihr aber tut jeder Schritt weh.
Krankenkasse bestätigt MRSA-Infektion
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Ihre Krankenkasse, die IKK classic, packt das jahrelange Leiden in drei Sätze: „Frau G. wurde 2010 am Unterleib operiert. Seitdem leidet sie an einer chronischen Wunde der Bauchdecke sowie einer MRSA-Infektion. Die Versorgung der Wunde erfolgt bis heute durch ein Krankenhaus, ihren behandelnden Hausarzt sowie einen Pflegedienst.“ So bestätigt die Kasse, was Margot G. dreieinhalb Jahre lang verschwiegen wurde: Dass sie mit dem gefährlichen MRSA-Bakterium infiziert ist, gegen das nur wenige Antibiotika wirken. Jedes Jahr sterben Tausende Menschen an diesem Keim.
Wie ist der Erreger in den Körper von Margot G. gekommen? Das lässt sich heute nicht mehr genau nachweisen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass sie sich in einer Klinik angesteckt hat.
Vom MRSA im Arztbericht keine Spur
Die Leidensgeschichte von Margot G. beginnt 2010. Da wird sie im Allgemeinen Krankenhaus Hagen am Unterleib operiert. Drei Eingriffe binnen drei Wochen sind im Arztbericht dokumentiert, dazu viele Komplikationen. Die Chirurgen schneiden die Bauchdecke auf, entfernen einen bösartigen Tumor, die Gebärmutter und Teile des Dickdarms, Lymphknoten, Fett- und Bindegewebe.
Doch dann gelingt es ihnen nicht, die Darmnaht dicht zu schließen. Flüssigkeit ergießt sich in die Bauchhöhle. Das Bauchfell entzündet sich, es kommt zur Blutvergiftung, ein künstlicher Darmausgang muss gelegt werden. Die Entzündungswerte schießen in die Höhe. Schließlich reißt die Bauchdecke auf.
Die Wunde wird nicht weiter behandelt
Von MRSA steht nichts im Arztbericht. Aus der Krankenakte von Margot G. geht hervor: Ihr Bettnachbar hatte den Keim. Ein MRSA-Test bei ihr verläuft negativ. Allerdings werden nur Hautoberflächen untersucht, nicht die Bauchwunde.
Als Margot G. zwei Jahre später wieder in die Klinik kommt, um sich an der Schilddrüse operieren zu lassen, wird sie sofort isoliert. Allein liegt sie in einem Drei-Bett-Zimmer, ohne nähere Begründung. „Eine leise Ahnung hatte ich da schon“, sagt sie heute. Die Ärzte finden in der offenen Bauchwunde den Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa, der ebenso wie MRSA gegen viele Antibiotika unempfindlich ist. Weiter behandelt wird die Wunde jedoch nicht. Von MRSA ist immer noch nicht die Rede.
Arzt lehnt Hüft-OP wegen MRSA ab
Ein Jahr später, 2013, soll Margot G. eine neue Hüfte eingesetzt werden. Als der Oberarzt im Evangelischen Krankenhaus Elsey in Hagen das 20 mal 20 Zentimeter große Loch im Bauch sieht, nimmt er einen Wundabstrich. Ergebnis: MRSA positiv. Damit ist die Hüft-OP passé. Zu gefährlich, sagen die Ärzte. Sie schneiden Haut aus dem Oberschenkel, versuchen damit die Wunde zu schließen. Es gelingt zum Teil. Das Loch wird kleiner, heilt aber nicht zu.
Und die Hüftschmerzen bleiben. In Hagen und Umgebung finden Margot G. und ihr Hausarzt Michael Topp kein Krankenhaus, das hilft. „Weil sie infiziert ist, wagt sich keiner an die Hüfte heran“, sagt Topp. Der Chefarzt einer Spezialklinik vor der Stadt winkt ab, als Topp ihn anspricht: „Wenn der Keim das neue Gelenk kontaminiert, ist ihre Patientin entweder tot oder sie sitzt fortan im Rollstuhl.“ Ein anderer Klinikarzt sagt Margot G.: „Sie haben MRSA. Kommen sie wieder, wenn der Keim weg ist.“
Margot G. fühlt sich wie eine Aussätzige
Margot G. sagt, seither fühle sie sich wie eine Aussätzige: „Geächtet“. Selbst im Sanitätshaus. Die Riemen des Stoma-Beutels, in den der künstliche Darmausgang die Exkremente abführt, sind ausgeleiert, der Beutel ist deshalb undicht. Im Sanitätshaus will sie neue Riemen kaufen. Doch die Angestellten weigern sich, ihr die Riemen anzupassen: „Hinterher stecken wir uns noch an.“
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Wie wird sie den Keim los? Ihr Hausarzt empfiehlt ihr, nach Holland zu reisen. Auch in ihrer Zeitung liest Margot G. etwas über MRSA und die Niederlande. Sie ruft in der Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung an. Es folgen grenzübergreifende Telefonketten und ein Angebot: Margot G. kann in eine Klinik nach Nijmegen kommen. Dort wollen die Ärzte den genauen Bakterienstamm ihrer MRSA-Infektion feststellen und eine Behandlung einleiten, die sie zu Hause fortsetzen kann.
Nein, so einfach gehe das nicht, bremst die IKK classic. Obwohl die Krankenkasse seit 2010 weiß, dass ihre Versicherte mit MRSA infiziert ist und obwohl seither nie über eine Entseuchung gesprochen wurde, fordert die Kasse nun plötzlich „weitere Unterlagen“ und „ärztliche Begründungen“. Sonst will sie die Behandlung in den Niederlanden nicht bezahlen.
Die Klinik verlässt Margot G. so krank wie zuvor
Der Prüfprozess zieht sich hin. Dann meint man bei der IKK classic, eine bessere Lösung als die Reise nach Nijmegen gefunden zu haben. Ganz in der Nähe von Frau G. gebe es ein Krankenhaus für die Rundumversorgung: Sanierung der Bauchwunde, Entseuchung und Hüftoperation. Margot G. wird ins Katholische Krankenhaus Hagen eingewiesen. Doch sie verlässt die Klinik so krank wie zuvor. Am 25. August 2014 meldet sich die Kasse telefonisch. Eine Sprecherin sagt kleinlaut: „Es ist nicht so gekommen, wie wir uns das vorgestellt haben.“
Erst die Ärzte in Nijmegen helfen
Jetzt hat Margot G. genug. Sie will nach Holland, und zwar schnell. Der Termin steht bald. Die Kasse ist immer noch nicht sicher, ob sie das Unterfangen bezahlen will. Sie tut es am Ende nicht, aber das ist Margot G. nicht mehr wichtig. Es geht um ihr Leben.
Am 4. September 2014 setzt sich die Frau, die Ärzte vier Jahre zuvor totgesagt hatten, in ein Taxi. Im Canisius-Wilhelmina Ziekenhuis in Nijmegen trifft sie die MRSA-Spezialisten Tom Sprong und Andreas Voss. Sie untersuchen die Patientin eingehend und nehmen Abstriche von diversen Körperstellen. Noch am gleichen Abend ist Margot G. wieder zu Hause. Wenig später bekommt ihr Hausarzt eine Mail aus Nijmegen. Darin findet sich ein Fahrplan zur „MRSA-Dekolonisierung für komplizierte Träger“, genau abgestimmt auf die Patientin: Antibiotika, Salben, Hygiene-Vorschriften, mögliche Nebenwirkungen.
"Immerhin: Ich lebe noch"
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Margot G. schöpft Hoffnung, da trifft sie ein weiterer Tiefschlag. Ihr Hausarzt entdeckt Flecken auf einem Röntgenbild. Metastasen? Ist der Krebs zurück? Das hieße Chemotherapie. Doch die greift das Immunsystem an. Dann aber könnten sich die MRSA-Bakterien wieder ausbreiten. Die Ärzte in Holland beruhigen Margot G.: Auch dafür gebe es Medikamente, die ein Zeitfenster für eine Chemotherapie öffnen. Das Allgemeine Krankenhaus Hagen arbeitet nun einen Behandlungsplan aus Nijmegen ab.
Margot G. vertraut den Holländern. Von der Krankenkasse und von den Klinik-Ärzten hier jedoch fühlt sie sich im Stich gelassen. „Fünf Jahre meines Lebens haben sie mir genommen. Aber immerhin: Ich lebe noch.“