Essen. Beunruhigende Zahlen aus den Kliniken: 70 Prozent mehr Behandlungen multiresistenter Erreger binnen vier Jahren in Bottrop. 1000 Diagnosen des im Infektionsfall kaum therapierbaren Darmkeims VRE 2013 in Essen. Und VRE-Anstiege jenseits der 300 und 400 Prozent in Südwestfalen. Die Keimkarte der Region wirft Fragen auf.
Mehr als 30.000 bis 40.000 Todesfälle durch multiresistente Keime in deutschen Krankenhäusern. Mehr als 30 000 behandelte Fälle der drei gefährlichsten Keime VRE, ESBL und MRSA 2013 allein in NRW. Und Experten wie Prof. Walter Popp, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, gehen von „einer noch deutlich höheren Dunkelziffer“ aus. Die gemeinsamen Recherchen der FUNKE Mediengruppe, der Zeit und des Recherchebüros Correctiv haben beunruhigende Zahlen zu Tage gebracht.
So nutzen Sie die Karte:
Um Daten für Ihren Wohnort bzw. Landkreis zu bekommen, haben Sie zwei Möglichkeiten:
- Fahren Sie mit der Maus über die Deutschlandkarte und klicken Sie auf den entsprechenden Punkt - dann vergrößert sich die Ansicht, und Sie bekommen die Auswertung für den gewählten Ort.
- Alternativ können Sie auch im Feld "PLZ" ihre Postleitzahl eingeben und gelangen dadurch zum entsprechenden Ort.
Rechts neben der Karte finden Sie die Erläuterung der Fallzahlen. Außerdem können Sie sich die Daten für verschiedene Erreger-Arten sowie die Daten für die Jahre 2010, 2011 und 2012 anzeigen lassen.
[kein Linktext vorhanden]Gefährliche Keime in NRW - die Ergebnisse
Die Keimkarte zeigt das bislang ermittelte Ausmaß der Bedrohung. Helle, schattige und halbdunkle Flecken zeigen die Verbreitung multiresistenter Krankheitserreger in den Kliniken der Region. Grundsätzlich gilt: je dunkler die Farbe, desto größer das Keimproblem.
Die Zahlen werfen Fragen auf. Was ist da los? Wer trägt dafür die Verantwortung? Sind einige Krankenhäuser wirklich so schlecht und andere um so viel besser? Oder untersuchen einige Klinken nur mehr Patienten auf Keime als andere – und finden dann eben auch mehr? Die statistische Auswertung zeigt Ballungsräume der Keimbelastungen in NRW. Und sie zeigt: Es gibt Erklärungsbedarf vor Ort.
Stärkster Anstieg der Fallzahlen in Bottrop
Etwa in Bottrop. Dort ist die Behandlung von multiresistenten Erregern seit 2010 am stärksten angestiegen: um 70 Prozent. Gehäuft werden Patienten mit multiresistenten Erregern in Gelsenkirchen, Mönchengladbach, Bochum und Mülheim behandelt.
In Essen wurde der Darmkeim VRE, gegen den kaum noch Antibiotika wirken, im vergangenen Jahr 1000 Mal diagnostiziert. Nur sechs Kreise in ganz Deutschland haben prozentual mit mehr gefährlichen Darmkeimen zu kämpfen. 2013 wurden in Essen rund 4500 Mal multiresistente Bakterien erfasst. Seit 2010 sind die ESBL-Fälle um 128 Prozent gestiegen, die VRE-Fälle um 83 Prozent.
Rückgang der Fälle in Dortmund
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Bemerkenswert: Im gleichen Zeitraum gingen die erkannten multiresistenten Erreger in Dortmund um 17 Prozent zurück. Auffallend auch die geringen VRE-Fallzahlen in Dortmund. Mit 121 Fällen bleibt die Stadt um mehr als die Hälfte unter den 266 Erkrankungen, die sich im Märkischen Kreis summierten, bei 30 000 Patienten weniger.
Südostwestfalen verzeichnet deutlich weniger Patienten mit multiresistenten Erregern, aber die höchsten dreistelligen Zuwachsraten in NRW. Der VRE-Anstieg im Märkischen Kreis seit 2010: 422 Prozent – der größte prozentuale Zuwachs landesweit. Mit einem 315-prozentigen VRE-Anstieg folgt Hagen nicht weit dahinter. Die Zahl aller abgerechneten multiresistenten Erreger nahm in der Volmestadt binnen vier Jahren fast um ein Viertel zu. Der Anstieg: 23 Prozent.
Hagen, der Hochsauerlandkreis und der Ennepe-Ruhr-Kreis verbuchen seit 2010 eine Zunahme von MRSA, ESBL und VRE. Die meisten MRSA-Diagnosen in diesem Bereich kamen aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis: 933, mehr als doppelt so viele wie in Hagen.
Weitere Informationen: Was sagen die Daten?
Auf dieser Karte haben wir Daten veröffentlicht, die deutlich wie nie die Verbreitung der tödlichen Krankenhauskeime in Deutschland zeigen: Die Daten entstammen den Abrechnungen aller Krankenhäuser bei den Krankenkassen. Sie zeigen, für welche Keimbehandlung die Kliniken Geld bekommen haben.
Anders als bei offiziellen Meldungen haben die Krankenhäuser hier keine Konsequenzen zu befürchten, wenn sie Infektionen melden. Sie müssen keine Stationen schließen, Isolierbetten einrichten oder Kontrollen ertragen, wie es bei offiziellen Stellen wie den Gesundheitsämtern der Fall sein könnte.
Im Gegenteil: Wenn sie ihre Behandlungen den Kassen melden, bekommen die Kliniken Geld. Das ist einer der Gründe, warum die Daten der offiziellen Statistik von den hier veröffentlichten Daten abweichen.
Die Daten stammen aus dem Abrechnungszeitraum 2010 bis 2013. In der Auswertung haben wir uns auf die häufigsten und gefährlichsten multiresistenten Erreger konzentriert, auf MRSA, VRE und ESBL.
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MRSA (Methicillin Resistenter Staphylococcus Aureus) wird häufig als Krankenhauskeim bezeichnet, etwa jeder fünfte Deutsche trägt den Keim auf der Haut. Der Darmkeim VRE (Vancomycin Resistente Enterokokken) und die Keimgruppe ESBL (Extended-Spectrum-Betalaktamase) sind seltener, aber gefährlicher. Und sie verbreiten sich seit Jahren immer stärker.
Neben den einzelnen Keimen zeigen wir unter dem Label MRE-Isolationen ein Gesamtbild der Problematik. Die Bezeichnung MRE-Isolationen umfasst alle gemeldeten „Komplexbehandlungen“ von multiresistenten Erregern. Im Klartext: Wenn ein Patient im Krankenhaus wegen eines oder mehrerer Keime isoliert werden musste. Dieser Patient – in der Abrechnungssprache: dieser Fall – kann auch mehrere Keime tragen, zum Beispiel gleichzeitg MRSA und VRE. Die Abrechnungen von Komplexbehandlungen („MRE-Isolationen“) sind nicht gekoppelt an die Abrechnungen einzelner Keime. In manchen Kreisen sind daher zum Beispiel mehr MRSA-Keime abgerechnet, als Komplexbehandlungen. So ist auch die Zahl der addierten Keim-Diagnosen höher als die Zahl der gemeldeten Fälle mit Komplexbehandlungen.
Die Daten nehmen Bezug auf den Wohnort der Patienten, nicht auf den Ort des Krankenhauses. Damit kann es eventuell Verfälschungen geben, wenn viele Patienten aus einem ländlichen Kreis in ein großes Krankenhaus in der Stadt eingeliefert werden. Abgeschwächt wird diese Verfälschung dadurch, dass die Daten auf Landkreisebene verfügbar sind und damit fast immer mehrere Krankenhäuser erfassen.
Die Berechnung „pro 1000 Krankenhauspatienten“ hilft uns, die Zahl der Fälle und Diagnosen ins Verhältnis zu setzen. Große Städte haben logischerweise mehr Patienten und damit auch mehr Erreger, als kleine Landkreise. Die Krankenhauspatienten sind den Kreisen und Städten ebenfalls nach ihrem Wohnort zugeordnet, so dass sie mit den gemeldeten Keimfällen vergleichbar sind.
Experten sind sich sicher, dass selbst die hier gemeldeten Fälle noch deutlich unterschätzt sind. Die Techniker Krankenkasse zum Beispiel geht davon aus, dass in den Abrechnungen nur ein Drittel der tatsächlichen Infektionen erkannt werden können.
Mehr Fälle als Meldungen beim RKI
Die Zahl der abgerechneten Keime ist deutlich größer als die beim Robert-Koch-Institut gemeldeten Infektionen. Das RKI sammelt ausschließlich die Daten zu MRSA, nicht zu VRE oder ESBL. Es sammelt zudem ausschließlich die in einem Labor in Blut oder Rückenmarksflüssigkeit nachgewiesenen Infektionsfälle mit MRSA. Über die Abrechnungsdaten sind dagegen alle Diagnosen von MRSA erfasst, also auch Fälle, bei denen das Bakterium nicht in Blut oder Rückenmarksflüssigkeit nachgewiesen wurde, sondern am Wundrand, in der Nase oder auf der Haut.
Was sagen die Daten nicht?
In den Daten sind sowohl alle Infektionen als auch alle Besiedelungen enthalten. Also: Nicht nur Patienten, die MRSA, VRE oder ESBL bereits im Körper tragen, zum Beispiel als Blutvergiftung oder Harnwegsinfektion. Sondern auch alle Patienten, die den Keim auf der Haut tragen und damit zwar ein erhöhtes Risiko, aber noch keine Infektion haben. Die besiedelten Keimträger können die Erreger jedoch an andere Patienten und das Personal verteilen und müssen deshalb im Krankenhaus genau so isoliert werden wie auch die Infizierten selbst.
Wir können leider nicht zeigen, wie viele Keime und Behandlungen die einzelnen Krankenhäuser abrechnen. Die Daten sind lediglich auf Ebene der Landkreise verfügbar. Weder die Krankenkassen, noch das Statistiche Bundesamt geben diese Daten heraus. Einige Krankenkassen haben Angst, dass sie von den Krankenhäusern verklagt werden. Das Statistiche Bundesamt verweist auf §16 des Bundesstatistikgesetzes. Der besagt: Einzelangaben dürfen nicht weitergegeben werden.
Die Daten zeigen alle Patienten mit multiresistenten Erregern, die in Krankenhäusern auffallen. Für ambulante Behandlungen von multiresistenten Erregern, zum Beispiel beim Hausarzt, gibt es keine so detaillierte Statistik.
Nicht alle in den Daten enthaltenen Infektionen und Besiedlungen haben die Patienten im Krankenhaus bekommen. Erfasst sind im Gegenteil alle abgerechneten Keime, egal ob mitgebracht oder neu erworben. Die erst im Krankenhaus übertragenen Keime machen wissenschaftlichen Studien zufolge etwa zwei Drittel der gesamten Keime aus.
Wir können nicht für jeden Landkreis einzeln sagen, wie viele der Patienten mit multiresistenten Erregern im Blut oder auf der Haut gestorben sind. Das können wir nur auf Bundesebene. Für das Jahr 2013 zeigen die Daten, dass von knapp 300.000 gemeldeten Diagnosen im Jahr 2013 zehn Prozent bei anschließend tot entlassenen Patienten diagnostiziert wurden. Ob die Patienten mit den mehr als 30.000 Diagnosen an den Keimen gestorben sind oder ob sie diese nur zusätzlich zu ihrer tödlichen Erkrankung trugen, ist aus den Daten nicht abzulesen.
Welche Grenzen haben die Daten?
Die von uns ausgewerteten Abrechnungsdaten fließen in ein kompliziertes Berechnungssystem ein, dass sich in Teilen von Jahr zu Jahr ändert. Manche Diagnosen bringen mehr Geld für die Krankenhäuser, manche bringen weniger ein. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass manche Kliniken bestimmte Behandlungen besonders häufig abrechnen, um besonders viel Geld zu machen. Offiziell ist in diesem System jedoch vorgesehen, dass jede Diagnose kodiert wird – unabhängig von der dahinter stehenden Vergütung.
Zusätzlich kann es – vor allem in kleineren Kliniken – vorkommen, dass Ärzte und die Verwaltung mit bestimmten Abrechnungsarten weniger vertraut sind. Oder dass Ärzte von Beginn an falsche Diagnosen stellen.
Es kann zudem der Fall eintreten, dass Ärzte und anderes Personal in den Kliniken die Abrechnungsnummern nicht gut genug kennen oder von Beginn an falsche Diagnosen stellen. Wenn Krankenhäuser in einer bestimmten Region also besonders gute und für das Keimproblem sensibilisierte Ärzte beschäftigen, kann auch dadurch die Zahl der abgerechneten multiresistenten Erreger steigen.
Die Daten sind gut, um einen Überblick über das Problem zu geben. Und um zu zeigen, dass sich etwas tun muss in der Bekämpfung multiresistenter Erreger. Sie sind nicht dazu geeignet, jeden einzelnen Fall exakt nachzuhalten.
In Mecklenburg-Vorpommern hat es im Jahr 2011 eine Gebietsreform gegeben. Wir haben die zuvor eigenständigen Landkreise zu den neuen Gebietsgrenzen zusammengefasst. Somit sind die Daten aus dem Jahr 2010 bereits in den neuen Gebietsgrenzen von 2011 dargestellt.
Woher kommen die Daten?
Die Daten sind eine Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes und kommen von den knapp 2000 deutschen Krankenhäusern, die am offiziellen DRG-Abrechnungssystem teilnehmen. Das sind mit ganz wenigen Ausnahmen alle deutschen Krankenhäuser. Auf dieser Grundlage werden die Behandlungen vergütet. Das Statistische Bundesamt bekommt einen Abzug dieser Daten.