Washington. In den USA rollt eine Lawine von Schmerzensgeldforderungenauf die Pfadfinder zu. Laut Opfer-Verteidiger Paul Mones gibt es allein für den Zeitraum 1965 bis 1985 „Tausende Missbrauchsfälle“ bei den „Boy Scouts“. Pädophile wurden jetzt im Internet veröffentlicht

Floyd Slusher ging stets nach dem gleichen Muster vor, wenn er die Pfadfinder-Knickerbocker herunterließ. Erst machte der ehemalige Betreuer Ende der 70er- Jahre in einschlägigen Sommer-Camps seine jugendlichen Opfer mit Alkohol gefügig. Dann missbrauchte er sie und drohte ihnen am Ende mit dem Tod. „Wenn ich verhaftet werde und aus dem Gefängnis komme, sind du und deine Familie dran“, sagte Slusher 1976 einem minderjährigen Schutzbefohlenen, wie in einem Polizei-Protokoll steht, aus dem die „Los Angeles Times“ zitiert.

Slushers Name ist einer von rund 1250, die seit Donnerstag im Internet stehen – gemeinsam mit 20.000 Seiten aus den „Akten der Perversion“. So nannte die mit rund vier Millionen Mitgliedern größte und seit ihrer Gründung 1910 traditionsreichste US-Jugend-Organisation aus dem christlichen Spektrum den über Jahrzehnte geheim gehaltenen Datensatz über Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen.

Nach der per Gerichtsbeschluss erzwungenen Veröffentlichung rollt nun eine Lawine von Schmerzensgeldforderungen auf die Bewegung zu, die mit dem Spruch wirbt: „Jeden Tag eine gute Tat“. Bereits vor zwei Jahren hatte ein Gericht in Portland/Oregon gegen die „Boy Scouts“ ein Strafgeld von 18,5 Millionen Dollar verhängt. Damals hatten sechs ehemalige Pfadfinder geklagt, die als Kinder fortgesetzt missbraucht worden waren.

Auch Eltern hielten still

Laut Opfer-Verteidiger Paul Mones gibt es allein für den durch das Gericht zur Einsicht freigegebenen Zeitraum 1965 bis 1985 „Tausende Missbrauchsfälle“. Im Schnitt behelligten die zum Teil längst Verurteilten, zum Teil noch Verdächtigen, etwa 25 Jungen. Oft über Jahre.

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Ein Muster taucht in den detaillierten Akten immer wieder auf, in denen sich Abgründe menschlichen Leids auftun: Ein Betreuer, etwa der heute 55 Jahre alte Timur Dykes, wird pädophil auffällig. Damit die Sache keine Wellen schlägt, werden die Eltern des Opfers zum Stillhalten überredet. Die Polizei bleibt außen vor. Die Organisation zieht den Übeltäter aus der Betreuerarbeit ab. Er bleibt aber als freiwilliger Helfer bei den Pfadfindern, manchmal in einer anderen Stadt – und missbraucht weiter Jungen. Im Falle Dykes waren es 17.

Ruf sollte nicht gefährdet werden

Recherchen der „LA Times“ ergaben, dass die Führung der „Boy Scouts“ nachweislich in mindestens 400 Fällen von Strafanzeigen gegen Betreuer absah, „um den Ruf der Organisation nicht zu gefährden“. In weiteren 100 Fällen sollen sexuelle Übergriffe gegen Jungen bewusst verschleiert worden sein.

Ohne das Urteil des Obersten Gerichtshofes wäre das Ausmaß des Missbrauchs laut Anwalt Mones nie ans Tageslicht gekommen. Die im texanischen Irving ansässige Organisation, in der Schwule und Lesben keine Mitglieder werden dürfen, hatte sich mit allen rechtlichen Mitteln dagegen gewehrt, die „Akten der Perversion“ öffentlich zugänglich zu machen.

Pfadfinder-Chef gibt sich reumütig

Wayne Perry, der Chef der Pfadfinder in Amerika, gab sich reumütig. „Leute bei uns haben ihre Stellung ausgenutzt, um Kinder zu missbrauchen, und in manchen Fällen waren unsere Reaktionen und unsere Schutz-Maßnahmen klar zu dürftig, unangemessen oder einfach nur falsch“, sagte Perry in Fernseh-Interviews und versprach Besserung. Bereits seit zwei Jahren seien alle Pfadfinder-Vertreter angewiesen, schon beim kleinsten Verdachtsfall auf Missbrauch die Polizei einzuschalten. Von Teamleitern wird vorher ein Führungszeugnis verlangt. Bei sämtlichen Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen sollen zudem immer zwei Erwachsene anwesend sein.

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Die Veröffentlichung der pädophilen Pfadfinder im Internet wird nach Einschätzungen von Kinderschutz-Organisationen die Debatte um die „Missbrauchs-Anfälligkeit von Groß-Organisationen“ anheizen. Zuletzt lösten ähnliche Skandale in mehreren Diözesen der Katholischen Kirche und an der berühmten Football-Universität Penn State landesweit Empörung aus. Etliche Gerichtsverfahren sind anhängig. Gemeinsames Merkmal: In fast allen Fällen war die Zahl der Mitwisser beträchtlich, die Bereitschaft zu schweigen immens.

David Clohessy, Direktor eines Netzwerks von Missbrauchsopfern: „Wir müssen uns als Gesellschaft von der Vorstellung verabschieden, dass es Institutionen gibt, die zu hundert Prozent glaubwürdig und makellos sind.“