Hamburg. Ostersonntag 2010 sollen sie 1000 Kilometer vor der Küste Ostafrikas den deutschen Frachter „Taipan“ gekapert haben – zehn Seeräuber aus Somalia. Die Männer mussten sich an bislang schon 103 Verhandlungstagen vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Für Freitag wird das Urteil erwartet.
Vier Richter, vier Schöffen, die Staatsanwälte, 20 Verteidiger. Ein Mammutverfahren. Das Hamburger Landgericht versucht seit knapp zwei Jahren, die Schuld von zehn Somaliern zu ermitteln, die Ostersonntag 2010 eintausend Kilometer vor der Küste Ostafrikas den deutschen Frachter „Taipan“ kaperten. Die holländische Marine stoppte damals den Überfall und befreite die 15-köpfige Besatzung, die in einen Schutzraum des Schiffes geflüchtet war und vier Stunden Todesangst durchlitt. Jeder der bisher 103 Verhandlungstage hat die Staatskasse 35.000 Euro gekostet.
Der Prozess ist teuer, lang und durchaus politisch. Der erste gegen Seeräuber seit 400 Jahren. Ist er auch fair? An diesem Freitag will Bernd Steinmetz, der Vorsitzende Richter, im Saal 337 das Urteil sprechen. Die Staatsanwaltschaft fordert zusammen 81 Jahre Haft für die Piraten wegen Angriffs auf den Seeverkehr und erpresserischen Menschenraubes – zwölf Jahre für den mutmaßlichen Anführer.
Fair? Piraten-Prozesse sollten nicht 9000 Kilometer vom Tatort in einem völlig anderen Kulturkreis geführt werden, sagt einer der Verteidiger. Selten habe er erlebt, dass das, was der Richter zu vermitteln suchte, so wenig von den Angeklagten verstanden worden sei.
Die Hamburger Staatsanwaltschaft fordert 81 Jahre Haft
Vom ersten Tag an war das so. Da nahmen die schlotternden jungen Somalier in ihren Turnschuhen und Kapuzenpullis noch an, der Mann in der schwarzen Robe sei der Henker. Sie machten merkwürdige Angaben zur Person. Geboren wann? „In der Regenzeit.“ Geboren wo? „Unter einem Baum.“ Das Gericht wiederum hatte schon große Mühe, die Namen auseinanderzuhalten, die der Clans und der Unterclans im bitterarmen, chaotischen Somalia. Die Übersetzer leisteten 23 Monate Schwerstarbeit: Was heißt Beweisantrag auf Urdu?
Vielleicht verlor das Gericht in dieser Zeit die Kontrolle über die Fernwirkung des Verfahrens. Letzte Woche sind dem Angeklagten D. die Nerven durchgegangen. In der Heimat habe sich seine Aussage herumgesprochen. Man habe dann den Bruder getötet. Die Familie sei geflohen. „Ich habe Angst.“
D. war es, der im Februar die Prozesswende herbeigeführt hat. Er belastete den mutmaßlichen Kommandeur des Angriffs. Er erzählte, er sei als Dolmetscher angeheuert worden. Hintermänner hätten Kalaschnikows und Panzerfäuste geliefert. Es habe Absprachen vor dem Angriff gegeben und den Vertrag, wer wie viel Lösegeld erhält.
Piraterie im Indischen Ozean kann den Seeräubern manchmal 10.000 Dollar Lösegeld bringen – pro Mann und Überfall. Ein Vermögen, wenn man weiß: 300 Dollar verdient der Durchschnitts-Somalier – pro Jahr. Da riskieren die jungen Leute in kleinen Daus die gefährliche Fahrt vor dem Horn von Afrika und die Begegnung mit den Nato-Fregatten. Einer der Zehn hat gesagt, man habe seinen kleinen Sohn entführt, um ihn erst zum Mitmachen zu zwingen. Die dunkelhäutigen Gestalten in Saal 337 sind aus einer anderen Welt.
Ein Prozess, 9000 Kilometer vom Tatort entfernt
Ist Mitgefühl angebracht? Eine andere Besatzung, die der „Hansa Stavanger“, erlebte vier Monate brutale Geiselhaft und Scheinhinrichtungen. Ihr Skipper wünscht im Hamburger Prozess die Höchststrafen. „Taipan“-Kapitän Dirk Eggers aber zeigt Verständnis für die Angreifer. Seine Reederei hat auf Nebenklage verzichtet.
Auch interessant
Die Anwälte wenden ein, es habe keine Beweisaufnahme vor Ort gegeben. Zeugen aus Indien und London seien nicht befragt worden. Doch am 103. Verhandlungstag wehrte Steinmetz den Antrag der Verteidiger auf Strafmilderung ab. Der Angriff sei keine „vollendete Tat“ gewesen, weil die Angreifer den Schutzraum nicht knacken konnten. Prognosen zum Richterspruch sind wohl unangebracht.
Die drei jüngsten Tatverdächtigen, 2010 waren sie minderjährig, durften den letzten Prozessmonaten ohne Handschellen folgen und aus der U-Haft Hahnöfersand ausziehen. Abdiwali M., heute 18, freut sich auf eine Zukunft in Deutschland. Er will Deutsch lernen, zur Schule gehen, die Familie unterstützen.