Tokio. . Nach der Katastrophe ist auch in Japans Hauptstadt Tokio nichts mehr, wie es einmal war. Beim Einkauf schauen die Familien ganz genau hin – aus Sorge vor radioaktiver Belastung der Lebensmittel.
Die vierköpfige Familie ist erst vor wenigen Monaten in die nagelneue, schneeweiß gestrichenen Drei-Zimmer- Wohnung in Tokios Stadtteil Nakano gezogen. Die großen Fenster im siebten Stock erlauben einen großartigen Blick auf das Zentrum der japanischen Hauptstadt mit seinen riesigen Wolkenkratzern.
Doch viel Freude hat die 29-jährige Sayaka Kobayashi in diesen Tagen nicht an ihrer Kleinfamilienidylle. Während die grazile Frau den fünfmonatigen Sohn Hotaka auf ihrem Schoß herumstrampeln lässt, bereitet ihr der dreijährige Hayato Kopfzerbrechen.
Der Kleine ist in einem Alter, in dem er begeistert jedes neue Wort aufschnappt. Dank der Nachrichten lernte er während der vergangenen drei Wochen das Wort Fukushima, er lernte Atomkraftwerk. Er kann inzwischen mühelos „Genpatsu Shinsai“ sagen – japanisch für „nukleares Erdbebendesaster“. Die Mutter musste grübeln, wie sie einem Dreijährigen die Gefahr erklären sollte, die von radioaktiver Strahlung ausgeht.
Beginn der Kirschblütensaison
Schließlich wollte Hayato erfahren, warum er im Kindergarten tagelang nicht nach draußen durfte. „Ich habe ihm erklärt, dass es wegen Fukushima sehr viele, für die Gesundheit gefährliche Bakterien in der Luft geben würde“, sagt Sayaka Kobayashi.
Inzwischen spielen die Kinder wieder auf dem Spielplatz des Kindergartens. Schließlich verkündeten die Behörden den offiziellen „Hanami“, den Beginn der Kirschblütensaison. Doch im Gegensatz zu früheren Jahren wurden diesmal alle Feste abgesagt. „Wir bleiben so viel zu Hause wie möglich“, erzählt Kobayashi, „aber nicht nur wegen der Möglichkeit von radioaktiven Strahlen. Ich habe auch Angst vor Erdbeben.“
In Gebäuden mit mehr als 20 Stockwerken wurden Restaurants und Kneipen geschlossen. In Shinjuku, dem Vergnügungszentrum von Tokio mit ungezählten Nachtlokalen, Restaurants und Geschäften, bleiben viele Lokale leer.
Das größte Problem ist das Wasser
Manche Fünf-Sterne-Hotels haben angesichts ausbleibender Touristen und Geschäftsreisenden die Tore geschlossen. In Zimmern wird das Licht ausgeschaltet, in denen es nicht gebraucht wird. Japan, die Nation die an eine Leben im Überfluss gewohnt ist, spart seit der Beginn der Katastrophe am 11. März.
„Das größte Problem ist für uns das Wasser“, sagt die 29- jährige Mutter Kobayashi. Der lokale Supermarkt ein paar Schritte von ihrer Wohnung verteilte Tickets. Damit kann die junge Mutter nun täglich genau zwei Liter Wasser kaufen. „Das reicht für Miso-Suppe und den Reis“, erzählt sie. Das Wasser wurde zur heiß begehrten Ware, seit am vergangen Freitag die radioaktive Belastung von Trinkwasser in der Hauptstadt plötzlich für ein paar Stunden anstieg.
Steigende Werte von Radioaktivität
Die ganze Familie nutzt das Leitungswasser noch zum Zähneputzen. Ob das sicher ist? „Ich weiß es nicht“, sagt Kobayashi, „ich weiß langsam nicht mehr, was wir tun sollen und wo man aufpassen muss.“
Immer wieder verkünden die Behörden steigende Werte von Radioaktivität. Am Dienstag erklärte die Regierung, das Land würde sich wegen der Nuklearkrise in höchster Alarmbereitschaft befinden. Gleichzeitig heißt es trotz der Entdeckung von ausgetretenem Plutonium, es gebe keine „unmittelbare Gefahr“ für die Gesundheit.
Plötzlich schauen Japaner, die ohnehin für hohen Qualitätsansprüche bei Nahrungsmitteln bekannt sind, beim Einkauf genau auf die Herkunft von Frischwaren. „Eigentlich sollten wir jetzt besonders viele Waren aus dem Norden kaufen, um den Leuten nach der Katastrophe wirtschaftlich zu helfen“, sagt Kobayashi, „aber ich kaufe nur noch Sachen aus dem Süden. Denn ich weiß nicht, was man aus dem Norden essen kann und was nicht.“
„Beim Einkaufen stelle ich fest, dass unsere populärsten Nahrungsmittel ausverkauft sind“, sagt Kobayashi. Selbst Bier ist in Nippori ausverkauft. Denn in Tokio hält sich hartnäckig die Sage, der Gerstensaft sei gut gegen Radioaktivität. Die Angst geht um in Tokio, auch wenn viele Japaner sich äußerlich nichts anmerken lassen.