Tokio. . Die Bewohner von Futaba in Japan lebten im Schatten des Atomkraftwerks Fukushima. Jetzt fürchten sie, dass sie diskriminiert und zu Atom-Aussätzigen werden – wie die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki.
Der Mann, der eben noch in aller Gemütsruhe auf der rosafarbenen Wolldecke gehockt hat, wird plötzlich nervös und fahrig. „Das darf nicht sein“, stößt Takaaki Sugamoto förmlich hervor, „das ist unmöglich.“
Aufgeregt stöbert der 45-jährige Angestellte der japanischen Post in den paar Habseligkeiten herum, die er aus seinem Haus in der Stadt Futaba mitgebracht hat und die nun vor der Flurwand in der vierten Etage der Sporthalle „Saitama Super Arena“ in einem Vorort Tokios liegen. Schließlich fischt Sugamoto einen abgestempelten Zettel aus einer Tasche. „Hier steht, amtlich bescheinigt, dass ich auf radioaktive Strahlen untersucht worden bin. Hier steht, dass ich sauber bin“, presst er hervor, „ich bin nicht verstrahlt!“
Tief aufgewühlt
Takaaki Sugamoto ist so aufgewühlt, weil er ein Schicksal fürchtet, das sich tief in das Gedächtnis der japanischen Nation eingegraben hat. Er fürchtet, von seinen Landsleuten wie die Überlebenden der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt zu werden. Die „Hibakusha“ - wörtlich „Explosionsbetroffenen“ - mussten alle Arten von Diskriminierung erdulden, weil sich trotz aller Aufklärungskampagnen das falsche Gerücht hielt, die von der Atomexplosion ausgelöste Strahlenkrankheit sei vererblich oder gar ansteckend. Viele Hibakusha konnten deswegen nicht einmal Arbeit finden.
„Wir hier reden dauernd darüber“, sagt der Postbeamte, „wir alle haben die Befürchtung, dass es uns genauso ergehen könnten.“ Denn Takaaki Sugamoto und seine 1200 Nachbarn, die jetzt ein paar von Pappkartons eingezäunte Wolldecken ihr Zuhause auf den Fluren der Sporthalle nennen, stammen aus dem Zentrum des atomaren GAU. Ihr Heimatort Futaba liegt im Schatten des Atomkraftwerks von Fukushima, in dem nach dem Erdbeben der Stärke 9,1 auf der Richter Skala und der anschließenden Tsunami am 11. März die erste Nuklearkrise der Welt seit der Katastrophe von Tschernobyl vor einem Vierteljahrhundert ausbrach. Gerade mal drei Kilometer Luftlinie beträgt die Entfernung von Sugamotos Haus zu den Reaktoren.
Eine halbe Stunde nach der Warnung
„Morgens, kurz vor sieben Uhr, fuhr plötzlich ein Lautsprecherwagen der Stadtverwaltung durch die Straßen“, erinnert sich Sugamoto, „er verkündete, es gebe Probleme. Wir sollten Futaba schnellstens verlassen. Ich dachte sofort an Radioaktivität.“ In Windeseile packte er seine beiden alten Eltern, Bankunterlagen und eine Reisetasche. Eine halbe Stunde nach der Warnung saß die Familie schon im Auto. „Es gab so viel Verkehr. Wie haben eine Stunde für eine Fahrt über vom Erdbeben beschädigte Straßen gebraucht, die wir sonst in zehn Minuten schaffen.“
Es war der ebenso überstürzte wie langsame Beginn einer Reise ohne Wiederkehr. „Meinen Eltern dämmert es erst langsam“, sagt Sugamoto, „aber ich bin schon seit ein paar Tagen überzeugt, dass wir in diesem Leben nicht noch einmal in unser Haus zurückkehren können.“ Zwei Stockwerke zählt das Gebäude mit dem kleinen, vom Vater gepflegten Garten - sieben Zimmer plus Speisesaal. Sugamoto hat nicht einmal ein Foto von dem Haus, das er wahrscheinlich nie wiedersehen wird. „Ich habe mich während der vergangenen Jahre informiert, als es andere Zwischenfälle an Atomkraftwerken gab“, sagt er, „wahrscheinlich ist Futaba so verstrahlt, das wir nie mehr zurückkönnen.“
Kontrolle über die Brennstäbe
In dem Kraftwerk wird immer um die Kontrolle über die Brennstäbe und Reaktoren gerungen. Während der Kampf stagniert, Rückschläge erleidet oder kleine Fortschritte vermeldet, tauchen in immer weiteren Umkreis Anzeichen von Radioaktivität auf. Im Gebiet von 17 Stadtverwaltungen raten die Behörden inzwischen davon ab, Blattgemüse zu essen oder Leitungswasser zu trinken. Selbst in der 250 Kilometer entfernten Tokyo war die radioaktive Belastung im Wasser am Freitag der vergangenen Woche so hoch, dass Müttern geraten wurde, Säuglingen kein Leitungswasser mehr trinken zu lassen.
Die Belastung ging seither in der Hauptstadt zwar wieder zurück. Aber seit dem Wochenende evakuieren Japans Behörden nun alle Bewohner, die im Umkreis von 30 Kilometern um das Atomkraftwerk von Fukushima leben. Mit der wachsenden Furcht vor den Folgen des Kraftwerk-GAU“s wächst auch die Hysterie. Notauffanglager für Vertriebene kündigten am Wochenende an, sie würden nur noch Japaner aufnehmen, die nachweislich nicht strahlenbelastet seien. Prompt kursierten per Twitter erste Aufrufe, die Flüchtlinge von Fukushima nicht zu diskriminieren.
Die Furcht der Vertriebenen
Aber die Furcht der Vertriebenen von Futaba vor einer Brandmarkung sitzt tief. Die 31-jährige Mayumi nimmt nicht einmal ihren Mundschutz ab, nennt ihren Vornamen nur nach einigem Zögern, verschweigt ihren Nachnamen und will erst recht kein Foto von sich und ihren neun Verwandten auf den Wolldecken in einer Ecke der „Saitama Super Arena“ zulassen. „Wir schämen uns, weil wir ohne Haus hier sitzen müssen“, sagt die junge Frau, „wir wollen nicht, dass jemand uns erkennt.“
Mayumi zuckt mit den Schulter. „Es reicht langsam“, sagt sie, „erst Erdbeben, dann Tsunami, dann Atomkraftwerk und seither Ungewissheit.“ Dann schaltet sich die 60-jährige Mutter ein, die bislang nur zugehört hat: „Trotzdem sollte niemand vergessen: Das Atomkraftwerk hat allen Bewohnern von Futaba direkt oder indirekt Arbeit und Wohlstand gegeben.“ Sie erzählt von dem sieben Jahre alten Haus, das ihre Familie mit dem Verdienst im Umfeld des Kraftwerkserbauen konnte. Beim Erdbeben seien nur ein paar Dachschindeln verloren gegangen, ansonsten aber blieb das Gebäude unversehrt blieb. Es steht auf einem kleinen Hügel. Der Tsunami erreichte das Gebäude nicht.
In der „Saitama Super Arena“ hat die Großfamilie nun ein paar Quadratmeter mit Pappkarton gegen neugierige Blicke abgeschirmt. Die Sippe lagert auf dicken Wolldecken, die von den Behörden ausgegeben wurden. Instantnudeln, Reispakete und ein kleiner Wasserkocher bilden eine kleine improvisierte Küche. Es gibt keinen Streit auf dem Flur. Aber manche Nächte können lang werden. Denn die Wand aus Pappkarton schützt vielleicht gegen Blicke. Das Schnarchkonzert von Hunderten von Vertriebenen halten sie nicht ab. Betreuer warnen, dass die Gesundheit und die Psyche von manchem Vertriebenen zu leiden beginnt.
Ein Funken Hoffnung
Die 31-jährige Mayumi klammert sich noch an einen Funken Hoffnung. „Ich möchte wenigstens ein einziges Mal zurückgehen können“, sagt sie. Sie war bei der Arbeit, als die Flut Futaba erreichte und musste in einen Nachbarort fliehen. Anschließend durfte sie nach nicht Hause zurückkehren.
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Ihre Verwandten fand sie erst nach mühsamer Suche in einem halben Dutzend Auffanglager. „Einmal wenigstens noch, ein einziges Mal möchte ich dorthin zurück, um ein paar Sachen zu holen“, sagt Mayumi mit Tränen in den Augen. Doch die Aussichten, dass ihr dieser ersehnte Besuch jemals gestattet wird, sind denkbar trübe. Zwar kursieren Geschichten, wonach man bedenkenlos für eine kurze Zeit in das Gebiet rund um den Reaktor fahren könne, wenn keine Radioaktivität mehr austrete. Doch genau weiß das niemand.
Vorerst sind die Vertriebenen von Futaba ohnehin anders beschäftigt. Vor ein paar Stunden haben ihnen Offizielle eine fotokopierte Landkarte mit dem Ort eines neuen Notlagers in die Hand gedrückt. „Das fünfte in zwei Wochen“, stöhnt auch der Postangestellte Sugamoto. Jetzt sollen alle 1200 Vertriebenen in einer Schule in dem Städtchen Kazo einquartiert werden. „Wir wissen nicht, wie es dort aussieht“, sagt der Mann, „wir wissen nicht, wie lange wir dort bleiben müssen. Wir wissen gar nichts.“
Kostenlose Badegelegenheiten
Ein Nachbar kommt vorbei. Er ist mit Sugamoto verabredet. Die beiden wollen zum Eingang der „Saitama Super Arena“ gehen. Dort bieten freiwillige Helfer kostenlose Badegelegenheiten in der Nähe an. Es gibt einen kleinen Kindergarten. Auf dem Platz haben sich Magier und Künstler eingefunden, die mit ihren Kunststücken versuchen, die Vertriebenen aufzuheitern. In einer Ecke gibt es sogar Massagen für die vielen alten Leute, die nun auf dem Boden schlafen müssen oder stundenlang herumsitzen.
Sugamoto und sein Kumpel aber haben ein anderes Ziel im Sinn. Ein paar Stunden am Tag öffnet am Eingang auch ein Stand, in dem es kostenlose Hosen, Hemden und Pullover gibt. Denn die Warnung nach dem Reaktorunfall kam so plötzlich, dass die meisten Vertriebenen kaum mehr als eine Reisetasche vollgepackt haben. „Ich komme mir vor, wie ein Bettler“, sagt Sugamoto, „dabei habe ich zu Hause alles herumstehen.“ Die ersten Demütigungen im Leben von Japans neuen Hibakusha haben nicht lange auf sich warten lassen.