Berlin. Mit 22 wog Paulina nur noch 28 Kilo. Heute kämpft sie als Designerin gegen unrealistische Standards, die sie als Model einst krank machten.
- Leistungsdruck treibt Paulina Tsvetanova schon mit 13 Jahren in die Magersucht
- Als sie bei einer Modelagentur unter Vertrag genommen wird, wird alles noch viel schlimmer
- Doch die junge Frau findet ihren ganz eigenen Weg aus der Essstörung, den sie hier teilt
Für wen hat Model-Mama Heidi Klum wohl in diesem Jahr (k)ein Foto parat? In der 20. Staffel von „Germany‘s Next Topmodel“ verhilft die 51-Jährige wieder jungen Menschen zum Einstieg in die Modelbranche. Die Sendung hat sich über die Jahre einen diverseren Anstrich gegeben: Trans-Personen, Männer und Menschen aller Konfektionsgrößen dürfen mitmachen. Ein Problem, das in der Branche immer noch vorherrscht, wird dabei jedoch kaum thematisiert: unrealistische Schönheitsideale und enormer Leistungsdruck, die für junge Models verheerende Folgen haben können.
Eine von ihnen ist Paulina Tsvetanova. Schon mit 13 Jahren hatte sie ein schwieriges Essverhalten. Doch spätestens als sie und ihre Zwillingsschwester von einer Modelagentur entdeckt wurden, steckte Paulina in einem Teufelskreis, der sie fast das Leben kostete. Was sie erlebt hat, ist die Grundlage für ein Modebusiness, mit dem die 41-Jährige heute anderen Frauen helfen möchte. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
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Essstörung: Krasser Leistungsdruck trieb Paulina in die Magersucht
In einer typischen Berliner Altbauwohnung mit knarrenden Dielen stapelt sich Paulina Tsvetanovas Kindheitstraum: Stoffe und Kleidungsstücke in bunten Mustern, jedes Teil ist ein Unikat. Es gibt keine Größen, alles soll unabhängig von Geschlecht und Körperform passen. Der Grund dafür liegt in der Vergangenheit der Modedesignerin: Zehn Jahre lang litt sie an Magersucht.
Tsvetanova ist in der südbulgarischen Stadt Plovdiv geboren. „Ich hatte eine klassische postkommunistische Kindheit“, erzählt sie. „Ich bin in der Platte aufgewachsen, mit griechisch-orthodoxem Glauben.“ In Bulgarien gehört über die Hälfte der Bevölkerung der bulgarisch-orthodoxen Kirche an, etwa zehn Prozent sind muslimisch.
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In ihrem Elternhaus muss alles perfekt sein, die Erziehung ist streng. Tsvetanovas beste Freundin wird im Alter von 15 Jahren zwangsverheiratet, während sie und ihre Zwillingsschwester eine deutschsprachige Schule besuchen. Auch dort ist der Druck groß: Ihre Mitschüler schreiben fast nur Einsen. In manchen Wochen lernen die Kinder und Jugendlichen bis zu hundert neue Wörter pro Tag.
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In dieser Zeit entdeckt Tsvetanova Mode-Zeichnungen für sich. Doch die Schönheitsideale der neunziger Jahre sind streng. Kate Moss macht es vor: Ein dünner, knochiger Körper und blasse Haut sind die Merkmale des sogenannten Heroin Chic. Tsvetanova und ihre Schwester sehen die Models im Fernsehen. Ihre gezeichneten Figuren auf dem Papier werden dünner und dünner.
„Durch das Modeln hat die Magersucht richtig angefangen“
Bald erfährt Tsvetanova den Druck, den Moss und ihre Kolleginnen erleben, am eigenen Leib. Schon früh entwickelt sich ihre schwierige Beziehung zum Essen: „Das begann ungefähr mit der ersten Periode, also mit 13 Jahren“, sagt sie heute. „Erst war es ein kontrollierendes Essverhalten, dann hat die Magersucht durch das Modeln richtig angefangen.“
Mit 14 werden die Zwillingsschwestern auf der Straße entdeckt und sollen für eine Modelagentur arbeiten. Die Bulgarin erinnert sich: „Schnell hieß es, wir müssten abnehmen. Unsere Taille wurde gemessen, es wurde immer noch ein Millimeter weniger.“
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Die Schwestern werden als Doppelpack für Werbekampagnen gebucht. Doch das Konkurrenzdenken habe auch ihre Magersucht verstärkt, erzählt Tsvetanova heute: „Die eine hat mehr abgenommen als die andere. Das war nochmal Druck obendrauf.“ Ihre Eltern hätten dagegen oft hilflos gewirkt, sagt sie. Doch die Tochter hungert weiter.
„Sport habe ich nicht gemacht, aber dafür manchmal nur eine Wassermelone am Tag gegessen“, sagt das ehemalige Model. Durch die Krankheit habe sich ihr Blick auf sich selbst verändert. „Man hat einfach kein normales Körpergefühl“, so Tsvetanova. „Du siehst dich im Spiegel und findest dich fett – dabei schrumpfst du immer weiter.“
Model wog mit 22 nur noch 28 Kilo: „War kurz vor dem Tod“
Nach dem Abitur an der deutschen Schule in Bulgarien ziehen Tsvetanova und ihre Schwester nach Deutschland, um in Freiburg Kunstgeschichte, Philosophie, christliche Archäologie und byzantinische Kunstgeschichte zu studieren. Ihr Studium finanzieren die beiden durch verschiedene Nebenjobs: Sie putzen, betreuen Kinder und helfen in Cafés aus. Mit dem Umzug in das neue Land verabschieden sich die Schwestern vom Modeln. Doch die Magersucht bleibt.
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Mit 22 Jahren habe sie nur noch 28 Kilogramm gewogen, sagt Tsvetanova heute. Viele Erinnerungen hat die Designerin laut eigener Aussage nicht an die schlimmste Zeit ihrer Erkrankung: „Ich glaube, weil ich durch die Magersucht so kurz vor dem Tod war.“ Der Wendepunkt kommt, als ein befreundetes Ehepaar den beiden Schwestern zu einem Klinikaufenthalt rät. Tsvetanova entscheidet sich für einen Weg ohne ihren Zwilling: „Ich ging hin, meine Schwester wollte nicht“, sagt sie.
So bricht Tsvetanova mit dem Konkurrenzdenken. Jede der Schwestern habe für sich selbst gesund werden müssen, sagt sie rückblickend: „Dass wir uns getrennt haben, hat bei der Heilung geholfen.“ Wie dringend diese Änderung war, erfährt Tsvetanova in der Klinik. Denn dort wird deutlich, wie schlimm es um ihre Gesundheit steht.
Magersucht überwinden: Das hat Tsvetanova Kraft gegeben
Die Ärzte warnen: Wenn Tsvetanova nicht sofort zunehme, habe sie weniger als einen Monat zu leben. Doch schon nach einem Monat verlässt sie die Klinik auf eigenen Wunsch und reist zurück nach Bulgarien – um bei ihren Eltern in der Heimat zu heilen, wie sie sagt: „Es ging für mich um diese eine Entscheidung, dass ich leben will“, sagt sie. „Und die musste ganz allein von mir kommen.“ Geholfen habe ihr dabei die Postkarte eines Freundes. Seine Botschaft: „Paulina, die Welt braucht dich.“
Tsvetanova sagt, sie habe es damals alleine geschafft, wieder zu essen, und innerhalb von drei Monaten zugenommen. Wie ihre Heilung verlief, ist von außen schwer überprüfbar. Die Behandlung von Magersucht erstreckt sich typischerweise über mehrere Jahre: Neben dem chronischen Untergewicht spielen auch psychische Faktoren eine große Rolle bei der Entwicklung der Essstörung.
Klar ist jedoch: Die Erkrankung kann tödlich enden. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2022 in Deutschland 41 Menschen an einer Magersucht. Auch deshalb sind eine ärztliche Behandlung und begleitende Psychotherapie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge unbedingt notwendig.
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Das alles weiß Tsvetanova. Und doch unterschreibt sie bei ihrer Entlassung aus der Klinik ein Papier, in dem steht, dass sie das Risiko zu sterben auf sich nimmt. So habe sie nach eigener Aussage nur nach nur wenigen Monaten in Bulgarien die letzten zwei Jahre ihres Studiums in Deutschland gesund beenden können.
Weg zur erfolgreichen Modedesignerin: Das spielte eine entscheidende Rolle
Mit ihrem neuen Lebenswillen tritt auch die Mode wieder in Tsvetanovas Leben. 2016 gründet sie den Second-Hand-Laden „Paulina‘s Friends“ in Berlin. „Ich habe Vintage-Mode von Flohmärkten gesammelt, kuratiert und verkauft“, erzählt sie. In dem Zeitraum tauchen die Zeichnungen aus ihrer Kindheit im Keller ihrer Eltern auf. Die Modefiguren hätten sie zum Nachdenken gebracht, sagt Tsvetanova: „Als ich die wiedersah, habe ich überlegt: Was will ich wirklich machen?“
Dann geht alles ganz schnell: In der Corona-Pandemie muss die Unternehmerin ihre mittlerweile vier Second-Hand-Läden schließen und entschließt sich mit 35 dazu, Modedesignerin zu werden. Tsvetanova kauft zwei Nähmaschinen, übt, und präsentiert ihre Arbeiten 2021 bei einer Modeveranstaltung für Diversität in Amsterdam. Doch sie findet immer noch nicht die Vielfalt und Authentizität, die sie sich in der Modewelt wünscht.
Viele Modelagenturen labelten ihre Models als divers. Was sie damit in Wirklichkeit meinten, sei schlicht: „alles über Size zero und älter als 27“. Seit den Neunzigern habe sich wenig geändert, findet die Neu-Designerin. Und nimmt sich vor, es anders zu machen.
Tsvetanova über Magersucht: „Ich erkenne sofort, wenn jemand krank ist“
In ihrer Wut gründet Tsvetanova das Projekt „Role Models“. Dafür lässt sie ihre Mode von ihren Kundinnen auf den großen Fashionshows präsentieren. „Das sind keine professionellen Models, sondern vielfältige, tolle und reife Frauen“, sagt sie. Ihre Kundinnen zahlen mehrere tausend Euro für einen Platz in den Modeschauen.
Gleichzeitig sei sie nicht mehr von den Modelagenturen abhängig und könne mit dem gesparten Geld die teuren Shows finanzieren, erzählt die Designerin. Die Teilnahme an einer Modewoche ist für Designer mit erheblichen Kosten verbunden. Doch Tsvetanovas Geschäftsmodell geht auf: Sie sei mit ihrer Mode bereits auf der Fashion Week in Paris, New York, Tokio, Rotterdam, Bratislava und Mailand gewesen, sagt sie.
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Trotz ihres Erfolgs kann Paulina Tsvetanova ihrem alten Krankheitsbild nie ganz entkommen. In der Modebranche werde ihre vergangene Magersucht andauernd getriggert, sagt sie, „weil viele Models doch sehr dünn sind oder an einer Essstörung leiden.“ Die Designerin habe aber ihren Umgang damit gefunden: „Ich erkenne sofort, wenn jemand krank ist.“
Nach zehn Jahren mit Magersucht hat sie sich heute mit ihrem eigenen Körper versöhnt: „Mittlerweile liebe ich Essen“, sagt Tsvetanova. So scheint sie endlich ihren Platz im System Mode gefunden zu haben – ausgerechnet in der Branche, die sie einst krank machte.
Wenn Sie oder jemand, den Sie kennen, Anzeichen einer Essstörung zeigen, kann eine professionelle ärztliche Hilfe unterstützen. Unter der Nummer 0221 892 031 oder der E-Mail-Adresse essstoerung@bzga.de erreichen Sie die Beratungsstelle für Essstörungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.