Witten. Vor acht Jahren erschütterten islamistische Terroristen Amerika mit blutigen Anschlägen. Wie sehr haben diese Ereignisse Deutschland verändert? Matthias Korfmann sprach darüber mit Hans-Jürgen Lange. Er ist Experte für Innere Sicherheit und lehrt an der Uni Witten/Herdecke.
Herr Lange, welche Bedeutung messen Sie dem 11. September 2001 zu?
Hans-Jürgen Lange: Seitdem hat sich die Sicherheitspolitik auch in Deutschland stark verändert. Es war klar, dass die Regierung nach den Anschlägen ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen wollte. Aber sie hat damals übertrieben reagiert. Es gab mehr Aktionismaus als rationale Überlegung. Die Rasterfahndung erfolgte nach dem Vorbild der Fahndung gegen die RAF-Terroristen. Das hat aber nicht viel genützt. Es gab ja kaum Kriterien, mit denen man islamistischen Terroristen auf die Spur kommen konnte.
Die großen Parteien sind sich einig
Was bedeutete dieser Aktonismus für den normalen Bürger?
Lange: Im Schlagschatten der Terrorbekämpfung wurde die Kontrolldichte immer größer. Auf einmal redet man ständig über Videoüberwachung, stellt das Bankgeheimnis infrage, vernetzt Datenbanken. Die großen Parteien sind sich weitgehend einig. Wir hatten nach 2001 immer eine stillschweigende Große Koalition in der Sicherheitspolitik.
Das gilt aber nicht bei der Frage, ob die Bundeswehr künftig auch in Deutschland als eine Art „Polizei” eingesetzt werden kann.
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Lange: In letzter Zeit kursiert die These, dass Innere und Äußere Sicherheit zusammengehören. Der Wunsch, die Bundeswehr auch im Inneren einsetzen zu können, wird von der Union ebenfalls mit der Terrorgefahr begründet. Auf den ersten Blick sieht das sogar plausibel aus. Die Bundeswehr übernimmt ja in Afghanistan auch polizeiliche Aufgaben.
Und was sehen wir auf den zweiten Blick?
Lange: Ich habe größte Bedenken, was diese neuen Aufgaben für die Streitkräfte angeht! Wir könnten da viel verlieren. Die Trennung zwischen Militär und Polizei ist eine große Errungenschaft. Sie hat sich im 19. Jahrhundert in Europa entwickelt. Man wollte sicherstellen, dass sich das Militär nicht eigenmächtig in die Politik einmischt.
Die Soldaten hängen nicht faul rum
Aber wir haben heute eine demokratische Armee, die sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlt.
Lange: Gut. Es gibt aber auch funktionale Bedenken gegen einen Bundeswehreinsatz im Inneren. Die Streitkräfte sind für weltweite militärische Einsätze ausgebildet. Sie wurden verkleinert, und sie sind derzeit voll ausgelastet mit den Friedensmissionen in aller Welt. Wer die Bundeswehr für den Objektschutz oder Polizeiaufgaben einsetzen möchte, der unterstellt, dass da viele Soldaten beschäftigungslos in den Kasernen rumlungern. Das ist aber gar nicht der Fall. Außerdem werden der Polizei auf diese Weise indirekt Schwächen unterstellt. Sollte es Defizite bei der Polizeiarbeit geben, dann müsste man aber in die Polizei investieren und nicht in die Armee. Wenn sich die Polizei in letzter Zeit immer mehr auf die Fahndung nach Terroristen konzentrieren muss, dann liegt es auf der Hand, dass der normale Streifendienst etwas zu kurz kommen könnte.
Warum kommt jemand überhaupt auf den Gedanken, wir bräuchten Soldaten für die Innere Sicherheit?
Lange: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und andere, die die Bundeswehr im Inneren einsetzen möchten, zeigen ein ganz neues Denken. Sie glauben, dass in den Zeiten einer globalen terroristischen Bedrohung gar keine Trennung in Innen und Außen möglich sei.
Das klingt doch ganz plausibel.
Lange: Ja, aber wieder nur auf den ersten Blick. In Deutschland gibt es ein sehr dichtes Regelwerk, an das sich Staat und Bürger halten müssen. Diese Regeln garantieren uns Recht und Freiheit. International gibt es nicht einmal im Ansatz ein entsprechendes Regelsystem. Aber es gibt unendlich viele „Sachzwänge”, die das Handeln in fernen Ländern und Krisenregionen bestimmen. Wer die Grenze zwischen Innen und Außen verwischt, für den sind Errungenschaften wie der Persönlichkeits- oder Datenschutz sehr schnell antiquiert. Es gibt viele, die fallen auf Sprüche rein wie „Datenschutz ist Täterschutz” oder „Wer sich nichts vorwerfen muss, hat auch nichts zu befürchten”. Wenn dieses Denken weiter um sich greift, dann wirkt der Rechtsstaat irgendwann wie ein Relikt.
Attackiert die Regierung bewusst die bürgerlichen Rechte?
Lange: Ich will Wolfgang Schäuble nicht unterstellen, dass er den Rechtsstaat abschaffen will. Das will er ganz bestimmt nicht. Aber Politiker wie Schäuble sehen auch nicht die ungewollten Konsequenzen ihres Handelns.
Die Sozialdemokratie ist hier tief gespalten
Wie positionieren sich denn die anderen Parteien?
Lange: Die FDP vertraut einerseits dem Staat, achtet aber andererseits sehr auf den Erhalt der Bürgerrechte und der Freiheit. Die Grünen haben ein generelles Misstrauen dem Staat gegenüber. Dennoch haben sie die Sicherheitspolitik von Innenminister Schily nach 2001 mitgetragen. Die Sozialdemokratie ist tief gespalten. Sie hat ein Urvertrauen in den Staat, weil er ihnen als Garant für soziale Gerechtigkeit erscheint. Es ist aber fatal, wenn man staatliches Handeln von vornherein als unbedenklich ansieht.
Ist die Gefahr denn nicht tatsächlich größer als früher?
Lange: Die Situation ist unübersichtlicher als früher. Es gibt heute kleine Terror-Gruppen, die im Untergrund wirken. Die Gefahr ist heute viel unkalkulierbarer als zum Beispiel in der Zeit des Kalten Krieges. Die Frage ist aber, ob wir mit der Sicherheitspolitik nicht maßlos übertreiben. Sind wir bereit, unsere gesellschaftlichen und persönlichen Freiheiten zu opfern für jede erdenkliche Form von Sicherheit? Am Ende erstickt dann vielleicht die Sicherheit die Freiheit.
Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Das ist auch aus einer aktuellen Umfrage des Beamtenbundes herauszulesen.
Lange: Tatsächlich haben wir heute mehr Sicherheit als jemals zuvor. Nur nimmt das Sicherheitsthema heute in Politik und Medien so viel Raum ein, dass es zu einem Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden ist. Überwachung und Datensammelwut werden fast schon als normal angesehen. Vielleicht sind die Überwachungen von Mitarbeitern bei der Telekom und der Bahn auch auf diesen Mentalitätswandel und auf den 11. September zurückzuführen.