Britische Wissenschaftler stellten Regeln auf für eine möglichst schnelle Evakuierung von Hochhäusern. Überlebende des 11. September erzählten: von Dingen, die sie schnell noch erledigten, bevor sie das WTC verließen
London. Eine Boing 767 war gerade in ihr Bürogebäude geflogen, doch viele Angestellte im New Yorker World Trade Center hatten andere Sorgen: Eine Frau musste erst noch mal schnell zum Klo, die Herren wollten rasch ihre Akten in den Safe legen und den Computer abschalten. Es sind die Geschichten von 271 Opfern, die britischen Forschern jetzt geholfen haben, Überlebensregeln für Wolkenkratzer-Katastrophen aufzustellen.
Über Leben und Tod bei einem solchen Extrem-Ereignis entscheidet nicht nur der Zufall, sondern auch die Architekten von Hochhäusern und das persönliche Verhalten bei einer Evakuierung. Zu diesem Schluss sind Wissenschaftler der Universitäten Greenwich, Ulster und Liverpool gekommen, nachdem sie die Überlebenden des 11. September befragt haben. "Wir wollten wissen, was ihr Verhalten auf dem Weg nach draußen beeinflusst hat", so Projektleiter Ed Galea.
Das Team aus Mathematikern, Ingenieuren, Psychologen, Sicherheitsexperten und Informatikern fand heraus, dass mehr als die Hälfte der Menschen im World Trade Center erst verschiedene Aufgaben zu Ende bringen wollte, bevor sie das Gebäude räumten. Andere machten sich umständlich daran, herauszufinden, was überhaupt passiert.
"Ingenieure und Architekten berechnen bei der Planung der Notausgänge eine Reaktionszeit der Menschen von zwei bis drei Minuten ein", so Galea. "Tatsächlich brauchten die Überlebenden rund acht Minuten, manche sogar 30 bis 40." Einige haben sich erst andere Schuhe anziehen, die Büropflanze gießen oder die Tasche packen wollen. Am langsamsten waren die, die sich erst mal ein Bild von der Lage verschafften: Sie standen am Fenster, klingelten in Nachbarbüros durch, schauten CNN oder sprachen mit der Ehefrau.
Die Studie hat außerdem gezeigt, dass nicht wie bisher angenommen die stetig wachsende Leibesfülle der Leute, sondern schlicht die Menschenmasse ein kritischer Faktor bei der Evakuierung der Türme war. Obwohl zum Zeitpunkt des Flugzeugangriffs weniger als ein Drittel der Mitarbeiter vor Ort war, haben die Treppen nicht ausgereicht, um alle zügig nach draußen zu bringen. "Wenn das Gebäude regulär besetzt gewesen wäre, hätten nach unseren Berechnungen fünf Mal so viele, also 7592 Menschen, ihr Leben verloren", bemerkt Galea.
82 Prozent der Opfer sind mindestens ein Mal für längere Zeit in den überfüllten Treppenhäusern aufgehalten worden - Minuten, die über Leben und Tod entscheiden. Erschöpfung, Schutt oder Verletzte haben überraschenderweise kaum für Verzögerungen gesorgt.
"Es gibt für die Evakuierung von Wolkenkratzern praktische Grenzen", so Galea. "Hochhäuser brauchen zusätzliche Fluchtwege, zum Beispiel Fahrstühle." Er verweist auf die Feuerwehr-Lifts an den Hochhäusern im Londoner Bankenviertel Canary Wharf. "Dies sind Fahrstühle, mit denen Rettungspersonal schnell nach oben fahren oder Verletzte bergen kann. Sie haben eine feuerfeste Elektrik, ein Back-Up-System und Türen, die sich auf Etagen mit Rauch und Feuer nicht öffnen." Dies sei besonders wichtig, um Tote wie beim Brand am Düsseldorfer Flughafen zu verhindern. Dort hat die Lichtschranke eines Aufzugs durch dichten Qualm blockiert - deshalb schloss sich die Tür nicht, stand der Fahrstuhl still und wurde die Kabine zur Feuerfalle.
Schwieriger als die Mechanik sei allerdings der Faktor Mensch. "Unsere nächste Aufgabe liegt darin, zu erforschen, wie man Betroffene überhaupt dazu bringen könnte, feuerfeste Lifts zu benutzen - wir sind ja mit der Maxime aufgewachsen, bei einem Brand bloß nicht den Fahrstuhl zu nehmen", seufzt der Projektleiter.
Fünf Überlebensregeln geben die Verfasser der Zwei-Millionen-Studie aus: Unternehme nichts, was Deine Evakuierung verzögert. Kenne den Weg nach draußen. Teste ihn, um zu wissen, wie lange Du brauchst. Bleib unterwegs nicht stehen, um etwa Freunde oder Familie zu beruhigen. Behalte Deine Schuhe im Treppenhaus an.