Washington. . Sie haben keine Anführer und ihre Ziele sind weit voneinander entfernt. Trotzdem behaupten die Demonstranten an der New Yorker Wall Street, hinter ihnen stünden 99 Prozent der Bevölkerung. Was wollen Sie wirklich?
Am Anfang wurden sie belächelt. Inzwischen sind die meist jugendlichen Demonstranten, die seit dem 17. September zu Hunderten Tag für Tag die New Yorker Wall Street belagern und so gegen die „Gier“ und „Übermacht“ der Finanzmärkte protestieren, ein nationales Gesprächsthema in Amerika geworden. Kommentoren angesehener Zeitungen ventilieren bereits die Frage, ob sich hier womöglich eine neue politische Kraft abzeichnet, die aus Verdruss über die Blockade-Politik von Republikanern und Demokraten in Washington auf die Straße geht.
Sozusagen eine Tea-Party von links, die dem grundsätzlich auf Staatsabbau herauslaufenden Politikstil des konservativen Republikaner-Ablegers das Kontrastprogramm vorsetzt: einen starken Staat, der Auswüchse in der Wirtschaft entschlossen eindämmt.
Eine führerlose Widerstandsbewegung
Zulauf hat die „Occupy Wall Street“-Gruppe („Besetzt die Wall Street“) jedenfalls in sehr kurzer Zeit erhalten. Seit kurzem sind auch die Finanzviertel von Chicago, Boston, Kansas City, Memphis, Los Angeles und St. Louis Schauplätze öffentlicher Proteste. Täglich kommen mehr Städte hinzu. Wer sind die Protestler, die sich nach eigenem Bekunden auch von den Ereignissen des arabischen Frühlings haben inspirieren lassen? In einer Art digitalem Manifest heißt es: „Wir sind eine führerlose Widerstandsbewegung, bestehend aus vielen Hautfarben, Geschlechtern und politischen Überzeugungen. Einig sind wir uns nur in diesem Punkt: Wir sind die 99 Prozent der Bevölkerung, die nicht länger die Gier und die Korruption von einem Prozent tolerieren.“
Dass die Zielsetzungen dabei bunt gemischt sind, erscheint fast zwangsläufig. Manche wollen das Treiben an den Börsen generell verboten sehen, andere vor allem die Macht der Zentralbank beschneiden. Wieder andere sehen die Erderwärmung als das dringlichste Thema an. Elise Whitaker, eine 21-jährige Drehbuchautorin, brachte es so auf den Punkt: „Ich fühle mich einfach nicht repräsentiert von den großen Interessengruppen und Banken, die gemeinsam immer mehr Kontrolle über uns Geld und unsere Politik gewonnen haben.“
Gefühl der Ohnmacht
Etliche Teilnehmer der jeden Tag im Fernsehen breit abgebildeten Demonstrationen fordern dagegen ein Ende der militärischen Einsätze der USA in Afghanistan und im Irak. Andere verlangen, ganz im Sinne von Präsident Obama, eine höhere Besteuerung der Reichen. Politologen an der New Yorker Columbia Universität, die um ihre Analyse gebeten wurden, zeigen sich noch irritiert. „Ist das nur ein Aufflackern? Oder entsteht hier etwas wirklich neues?“ Ehrlich gesagt: keine Ahnung.“ Im Zeitalter von Youtube und Twitter seien solche Erscheinungen oft schnelllebig und darum mit Vorsicht zu betrachten, heißt es auch in Washingtoner Denkfabriken. „Viele Demonstranten wollen offenbar vor allem diesem Gefühl der Ohnmacht Luft machen, das die katastrophale Konjunkturlage im ganzen Land ausgelöst hat“, heißt es bei Brookings.
Ein Ende der Proteste ist vorläufig nicht in Sicht. An diesem Mittwoch haben sich erneute Hunderte in New York angekündigt, darunter auch Gewerkschaften und weitere politische Kräfte. Am Donnerstag dann erreicht das Protestgefühl voraussichtlich auch die Hauptstadt. An der Freedom Plaza in Washington ist eine große Demonstration geplant. Nina Eliasoph, Soziologie-Professorin an der Universität von Kalifornien, sieht die Situation dennoch nüchtern: „Wenn die Bewegung einen bleibenden Eindruck hinterlassen will, muss sie Führungsfiguren haben und klare Forderungen in den politischen Kreislauf einspeisen.“