Washington. . Mittlerweile ziehen überall in den amerikanischen Städten die Menschen auf die Straße, um gegen den ausufernden Kapitalismus zu protestieren. Sie wollen mehr Fairness und Gerechtigkeit. Hauptzielscheibe ist die Wall Street.
Die Bewegung nimmt Fahrt auf. Und das Tempo ist beeindruckend. Was am 17. September mit ein paar hundert meist jugendlichen Demonstranten an der New Yorker Wall Street begann, hat nach Ansicht angesehener US-Kommentatoren womöglich das Potenzial, eine neue politische Kraft zu begründen. Muss sich Amerika mittelfristig sogar auf eine Alternative zu Republikanern und Demokraten einstellen?
Seit am Mittwoch an die 7000 Menschen in Manhattan gegen die „Gier“ und „Übermacht“ der Finanzmärkte auf die Straße gingen, erscheint eine Bewegung von links als Kontrastprogramm zur erzkonservativen „Tea Party“ „nicht mehr völlig abwegig“, heißt es in Internet-Blogs.
Auswüchse in der Wirtschaft eindämmen und Fairness schaffen
Was die Schar der Protestierenden, in der sich Umweltretter, Tierschützer, Sozialreformer, Opfer der Finanzkrise, Arbeitslose sowie Gegner der Todesstrafe treffen, eint, ist die Forderung nach einem starken Staat, der die Auswüchse in der Wirtschaft eindämmt und Fairness schafft. Sie wollen einen anderen Kapitalismus, der nicht die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Über das „Wie“ gibt es natürlich verschiedene Auffassungen, wenn sich Anarchisten, Sozialisten, Linksliberale und Gewerkschafter gemeinsam aufmachen.
Dass der große Gewerkschaftsverband AFL-CIO, dass Krankenschwestern, Lehrer und Busfahrer in New York und Washington mit von der Partie waren, unterstreicht aus Sicht der Analytiker in den Washingtoner „Denkfabriken“ die gewaltige Dimension des Unbehagens, „das inzwischen weite Teile Amerikas ergriffen hat”.
In ihrem digitalen Manifest schreiben die Initiatoren von „Occupy Wall Street“ (Besetzt die Wall Street): „Wir sind eine führerlose Widerstandsbewegung, bestehend aus vielen Hautfarben und Überzeugungen. Einig sind wir uns nur in diesem Punkt: Wir sind die 99 Prozent der Bevölkerung, die nicht länger die Gier und die Korruption von einem Prozent tolerieren.“
„Besteuert Wall Street”
Offen wird dabei zugestanden, dass man sich bei dem Entschluss, auf die Straße zu gehen, von den Befreiungs-Protesten im vergangenen „Frühling“ in der arabischen Welt inspirieren ließ. Zielscheibe ist nun aber der Finanzsektor. So heißt es auf den Spruchbändern: „Besteuert Wall Street” oder: „Lasst die Banken zahlen”.
Die jüngste Forderung der Demokraten im US-Senat, die 240 000 Einkommens-Millionäre im Land ab 2012 höher zu besteuern, trifft darum auf offene Ohren. Auf die Blockade-Haltung der Republikaner, die das Vorhaben entschieden ablehnen, reagierten viele Demonstranten mit Wut und Enttäuschung.
Elise Whitaker, eine 21-jährige Drehbuchautorin, sagte es so: „Ich fühle mich einfach nicht repräsentiert von den großen Interessengruppen und Banken, die gemeinsam immer mehr Kontrolle über unser Geld und unsere Politik gewonnen haben.“
In Zeiten von Twitter und YouTube sind Frust und Erregung leicht zu erzeugen. Wie beständig der Protest ist, müssten die nächsten Wochen zeigen, sagen die heimlichen „Paten“, wie Nobelpreisträger und Ökonom Joseph Stiglitz. Seine These, wonach „Amerika Ungleichheit auf Weltklasse-Niveau betreibt”, weil es sehenden Auges zulässt, dass ein Prozent der Bevölkerung vierzig Prozent des Vermögens besitzt, ist die Präambel der ungeschriebenen Protest-Bibel.
Figuren gesucht
Ob die nächsten Kapitel folgen, ist für Nina Eliasoph, Soziologie-Professorin an der Universität von Kalifornien, aber noch ungewiss: „Wenn die Bewegung einen bleibenden Eindruck hinterlassen will, muss sie Führungsfiguren aufbauen und klare Forderungen in den politischen Kreislauf einspeisen.“