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Erdbeben, Tsunami, Explosionen. Kernschmelze und verseuchtes Land. Evakuierungen, Obdachlose und Plutonium – in Deutschland ist das nicht möglich. Das galt bis vor zwei Wochen in diesem Ausmaß auch in Fukushima. Dort ist eingetreten, was Politik und Technik als „Restrisiko“ abgeheftet hatten. Kann man sich auf einen Rest Risiko vorbereiten? Kann man das einkalkulieren, kann man das berechnen? „Nein“, sagt Professor Metin Tolan, Physiker an der TU Dortmund.
„Das Restrisiko lässt sich nicht mit einer Zahl belegen, nicht ausrechnen. Es ist eben der Rest, den wir nicht kennen.“ Ein Beispiel: Man könne zwar die Wahrscheinlichkeit – oder die Unwahrscheinlichkeit – ausrechnen, mit der ein Jumbojet auf ein deutsches Kernkraftwerk krachen könnte. Doch was dann passiert, das weiß keiner. Tolan: „Es gibt ein Risiko, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir davon nichts wissen.“ Das ist das Restrisiko. Es fällt leicht, sich daran zu gewöhnen, eben weil wir keine Ahnung davon haben.
„Auch der 11. September 2001 war unvorstellbar“
Auch nicht die Ingenieure des Atomkraftwerks in Fukushima. „Sie haben die Anlage für ein Beben der Stärke acht ausgelegt“, sagt Tolan. Es kam jedoch mit Stärke neun, das ist auf der logarithmischen Skala eine Steigerung um das Zehnfache – unvorstellbar. Auch die Stärke des Tsunamis übertraf alle Szenarien. „Kein Ingenieur hat berechnet, dass eine Welle alle Aggregate und Geräte rundherum abrasieren könnte“, so Tolan; dass sämtliche Sicherungen, Notstromgeräte und Kühlanlagen zugleich versagen würden. „Man wusste nicht, dass es sowas gibt.“ Das ist das Restrisiko.
Arbeiten im Problem-Reaktor
„Keiner kann behaupten, dass dieser Fall nicht auch in Deutschland auftreten kann“, sagt er. Um die Kraftwerkstechnik macht er sich keine Sorgen, die sei sicher. Aber wer will versichern, es werde niemals ein Flugzeug auf eine Atomkuppel stürzen? Wer könne behaupten, dass niemals ein Terrorist eine Bombe an einem Reaktor zünden wird? Wer weiß, ob niemals ein Erdbeben ein AKW schlimm erschüttern kann? „Auch der 11. September 2001 war unvorstellbar“, sagt Tolan.
Das ist das Restrisiko. Und wir leben damit. „Die Gesellschaft muss sich fragen, ob sie bereit ist, mit einer Katastrophe zu rechnen, die eintreten kann, aber nicht muss“, sagt Tolan. Wir leben in einer Welt, die Risiken in Kauf nimmt. Jedes Chemiewerk stellt eines dar, jede Fahrt mit dem Auto. Tolan: „4000 Menschen sterben in Deutschland jährlich im Straßenverkehr. Stellen Sie sich vor, so viele Leute würden bei einem Strahlenunfall umkommen. . .“
Öko-Romantik
In kleiner Dosierung werde das Risiko erträglich, für ihn ist das irrational. Und das mache die Diskussion so schwierig, sagt Tolan, dem es von Berufs wegen mulmig wird, wenn Emotionen mitspielen. „Wir reden über Kernenergie in den Kategorien von Gut und Böse anstatt nach Nutzen und Notwendigkeit zu fragen“, beklagt er. Die Politik könne nicht nüchtern entscheiden, wenn die Bevölkerung aufgebracht sei – und die wolle keine Atomkraftwerke.
Er hält sich an Zahlen: Um ein AKW zu ersetzen, müsste man 1000 Windräder aufstellen. „Tausend!“ Für ihn hat das etwas von Öko-Romantik. Er bleibt lieber auf der rationalen Ebene: Risiken zu mindern, sei stets vernünftig. Man sollte also Atomkraftwerke sicherer und überflüssig machen, rät er.
Tsunami, Erdbeben, Flugzeugabstürze, Kernschmelze – eine Zivilisation lebt mit der selbst erzeugten Gefahr. Dieser Appell bleibt von der Risikodebatte: Risiken reduzieren! Ein Rest bleibt immer.