Tokio. . Das Erdbeben und nicht der anschließende Tsunami ist offenbar der Auslöser für die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima in Japan. Der Reaktorblock 1 war vermutlich gleich nach dem Erdbeben außer Kontrolle. Daten deuten auf einen frühen Kühlwasserverlust hin.
Der Betreiber der Atomanlage Fukushima-Daiichi, die Sicherheitsbehörden und die japanische Regierung stehen seit Beginn der Krise im Verdacht, die Wahrheit über das ganze Ausmaß der Katastrophe in Japan zu verschweigen. Jetzt hat ein am Design der Anlage beteiligter Nuklearingenieur Daten für den Reaktorblock 1 des Atomkraftwerk Fukushima vorgelegt und analysiert, die nahelegen: Das Erdbeben vom 11. März, und nicht der dadurch verursachte Tsunami, war zumindest dort der Grund für einen Kühlwasserverlust, der zum Super-GAU geführt hat.
Ein Kühlwasserverlust ist für Fachleute ein Horrorszenario. Bei einer Unterbrechung der Kühlung können die Brennstäbe so heiß werden, dass eine Kernschmelze einsetzt und große Dosen radioaktiver Strahlung freigesetzt werden.
Es drohen der totale Verlust der Kontrolle über den Reaktor und Explosionen, die weite Teile der Umgebung radioaktiv verseuchen. Für viele Experten ist dann eine Konsequenz zwingend: Die sofortige Evakuierung der Bevölkerung in möglichst weit entfernt liegende Gebiete.
Tepco setzte möglicherweise bewusst Menschenleben aufs Spiel
Sollten der Betreiber Tepco, Sicherheitsbehörden oder die japanische Regierung von dem frühen Kühlwasserverlust gewusst haben, würden sie sich angesichts der auf einen Radius von 20 Kilometern begrenzten, inzwischen gestoppten Evakuierungen und der Verstrahlung von Arbeitern dem Vorwurf ausgesetzt sehen, bewusst mit dem Leben von Menschen gespielt und die Retter in Todesgefahr gebracht zu haben.
Arbeiten im Problem-Reaktor
Betroffen wäre auch die Nuklearindustrie. Sie behauptet bis heute, die Reaktoren hätten dem Erdbeben standgehalten. Nur weil der folgende Tsunami die Stromzufuhr zu den Kühlsystemen unterbrochen habe, sei das Atomdesaster ausgelöst worden. Diese Behauptung wird durch die Datenanalyse nachhaltig infrage gestellt.
Dass einiges für einen Kühlwasserverlust gleich nach dem Erdbeben spricht, erläuterte Mitsuhiko Tanaka am Wochenende bei einer Pressekonferenz der Nichtregierungsorganisation Citizen“s Nuclear Information Center. Tanaka, der früher für Babcock Hitachi gearbeitet hat und am Design für den Druckbehälter des Reaktors 4 in Fukushima beteiligt war, stützte seine These vom frühen Kühlwasserverlust auf offizielle Daten aus dem Reaktor 1. Sie weisen auf einen anderen als den bisher offiziell verbreiteten Katastrophenverlauf hin.
Massiver Druckabfall im Reaktorkern direkt nach dem Beben
Danach hatten die Betreiber am 11. März um 16.36 Uhr - knapp zwei Stunden nach dem Erdbeben - versucht, das Notkühlsystem einzusetzen. Das reguläre System war zu diesem Zeitpunkt offenbar schon ausgefallen. Auch die Notkühlung versagte. Bisher wurde dies mit dem Ausfall der Dieselgeneratoren nach dem Tsunami begründet.
Tanaka allerdings kommt zu einem ganz anderen Schluss. Die ersten verfügbaren Messdaten aus Reaktor 1 beschreiben dessen Zustand zwölf Stunden nach dem Erdbeben: Im Reaktordruckbehälter, in dem sich der Kernbrennstoff befindet, war der Druck von den üblichen 7 Megapascal (70 bar, ein Autoreifen wird mit etwa 2 bar gefüllt) auf nur noch 0,8 Megapascal gesunken. Gleichzeitig, erklärt Tanaka, „sank der Kühlwasserpegel dort rapide“. Im Sicherheitsbehälter, der den Druckbehälter umgibt, stieg parallel der Druck an, von 0,1 auf 0,8 Megapascal.
Diese Druckveränderungen sind für Tanaka ein Hinweis für ein Leck im Kühlsystem. Es sei, kommentierte er, aufgrund dieser Daten „nahezu unbestreitbar“, dass es einen Kühlwasserverlust gegeben habe. Er vermutet einen Rohrbruch am Reaktordruckbehälter. Viele Experten hätten dass wissen müssen oder wissen können, sagt Tanaka: „Aber sie haben geschwiegen“.
Der Reaktor war von Beginn an außer Kontrolle
Mit dem Versagen der Notkühlung war das wichtigste Instrument der Betreiber im Kampf um die Eindämmung der Katastrophe ausgefallen. Der Reaktor war damit von Beginn an außer Kontrolle. Es war und ist unabsehbar, ob sich die für die Reaktoren 1 bis 3 angenommene Kernschmelze in Richtung Grundwasser durchbrennt, oder ob es zu weiteren Explosionen kommt. Vor diesem Hintergrund kritisiert der Atomexperte Mycle Schneder, es sei „zu spät evakuiert worden“. Für ihn ist es ebenfalls unverständlich, dass mit weiteren Evakuierungen nicht längst wieder begonnen wurde.
Sollte Tanakas Analyse sich bestätigen, müssen sich Tepco und die Regierung unangenehme Fragen gefallen lassen - auch mit Blick auf das Schicksal der Männer, die an und in den Reaktoren versuchen, die Katastrophe einzudämmen. Sie sind in ein Umfeld geschickt worden, in dem Kühlwasser freigesetzt war, das Kontakt mit den Brennstäben hatte und daher hoch radioaktiv belastet war. Möglicherweise hat es sich mit dem Meerwasser, das lange Zeit in die Reaktoren gepumpt wurde, vermischt. Wohin dieses gefährlich belastete Wasser in den Gebäuden gelangt ist, dürfte schwer zu überschauen sein.
„Es ist zum Verzweifeln“
Am vergangenen Donnerstag waren drei Arbeiter durch radioaktiv belastetes Wasser verstrahlt worden. Nach Angaben der japanischen Atomaufsicht NISA waren sie einer Strahlung von 2.000 bis 6.000 Millisievert ausgesetzt. Nach amtlichen Angaben kann diese Strahlenbelastung bei Personen, die ihr mit ganzem Körper ausgesetzt sind, innerhalb kurzer Zeit zu Strahlenkrankheit und Tod führen.
Die japanische Atomsicherheitsbehörde NISA teilte mit, Kraftwerksbetreiber Tepco habe von hohen Strahlenwerten in Block 3 gewusst, bevor die beiden Arbeiter dort verstrahlt worden seien. Regierungssprecher Yukio Edano forderte Tepco deshalb zu mehr Transparenz auf. NISA verlangte, Tepco müsse mehr für die Sicherheit seiner Mitarbeiter in der Anlage tun.
Allerdings mussten sowohl die Regierung als auch die NISA jene Daten kennen, aus denen Tanaka auf den Kühlmittelverlust und die daraus erwachsenden Gefahren geschlossen hat. Sie dürften auch jene fehlenden Daten haben, die Tanaka nach eigenen Angaben fehlen, um seine Schlussfolgerungen endgültig zu beweisen. Doch Experten aus mehreren Ländern sagten der Nachrichtenagentur dapd: „Es ist zum Verzweifeln. Die geben einfach keine Daten raus.“ (dapd)