Karlsruhe. . Die Verfassungshüter in Karlsruhe wollen offenbar an der Sicherungsverwahrung festhalten. Derzeit prüfen die Richter, ob 100 gefährliche Mörder und Sexualstraftäter auf freien Fuß gesetzt werden müssen.
Die Verfassungshüter in Karlsruhe prüfen seit Dienstag, ob rund 100 hochgefährliche Mörder und Kinderschänder vorzeitig aus der sogenannten Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen. Anlass sind die Klagen von vier Straftätern, die geltend machen, mit früheren Regelungen zur Sicherungsverwahrung sei gegen ihre Menschenrechte verstoßen worden. Dass das Bundesverfassungsgericht tatsächlich die Freilassung der Kläger und weiterer Betroffener verfügen könnte, ist aber eher unwahrscheinlich, wie Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in der Verhandlung am Dienstag andeutete.
Allerdings könnte das in drei Monaten erwartete Urteil teuer für Bund und Länder werden. Sie müssen voraussichtlich sehr viel mehr Resozialisierungs- und Therapieangebote für Sicherungsverwahrte schaffen, damit sich die sogenannte Maßregel, mit der die Bevölkerung vor rückfallgefährdeten Kriminellen geschützt werden soll, deutlich von einer Strafe unterscheidet. Dieses sogenannte Abstandsgebot hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2004 in einem ersten Urteil für die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung gefordert. Doch dass die Länder diese Mahnung ernst genug genommen haben, „muss man jedenfalls auf den ersten Blick bezweifeln“, kritisierte Voßkuhle.
Sicherungsverwahrung früher auf zehn Jahre begrenzt
Weil die Betroffenen dem Klägervertreter Jörg Kinzig zufolge nach ihrer Haftverbüßung in Sicherungsverwahrung zumeist in völliger Perspektivlosigkeit weiter weggesperrt bleiben, fiel es dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg auch leicht, die Maßregel in einem Urteil von 2009 als zusätzliche Haftstrafe zu bezeichnen, die nicht nachträglich angeordnet werden dürfe.
Dies war früher möglich: Bis 1998 war die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt. Danach wurde dieses Limit aber aufgehoben und rückwirkend auch für all jene unbeschränkt verlängert, die vor 1998 verurteilt worden waren. Zudem wurde 2004 die nachträglich anzuordnende Sicherungsverwahrung für Fälle eingeführt, in welchen sich erst während der Haft neue Tatsachen für die Gefährlichkeit eines Täters ergab.
Sicherungsverwahrung „notwenidges Pendant“ zum liberalen Strafrecht
Nach Ansicht des EGMR wurde damit in beiden Fallgruppen gegen einen Rechtsgrundsatz verstoßen, den schon die alten Römer kannten: Wer eine Straftat begeht, kann nur nach einem Gesetz bestraft werden, das zur Tatzeit gilt. Weil dem Straßburger Gericht zufolge Sicherungsverwahrung eine Strafe ist, die auch ohne gesetzliche Grundlage angeordnet wurde, verstößt die Bundesrepublik nach Auffassung der vier Kläger gegen ihre Menschenrechte.
Doch die Verfassungsrichter scheinen dem nicht folgen zu wollen. Voßkuhle machte in seiner Einführung deutlich, auf wessen Seite das Gericht zu stehen scheint. Die Sicherungsverwahrung sei das „notwendige Pendant“ zum liberalen deutschen Strafrecht mit seinen eher geringen Strafen, sagte er.
Was er damit meinte, erklärte die sichtlich erleichterte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sicherungsverwahrung ist keine Strafe sondern dient dem Schutz potenzieller Opfer. Im Einzelfall sei es deshalb gerechter, für einen hochgefährlichen Täter zusätzlich Sicherungsverwahrung anzuordnen statt, wie im europäischen Ausland praktiziert, generell sehr hohe Strafen zu verhängen.
Sicherheitsinteressen der Bevölkerung im Vordergrund
Voßkuhle sieht das anscheinend auch so: Seinen Worten zufolge geht es in der Verhandlung „um Kernelemente des deutschen Strafrechtssystems und ihre rechtliche Absicherung in der europäischen Gesamtrechtsordnung“. Das sperrige Urteil des EGMR könnte das Gericht dabei elegant umkurven. Zwar haben Straßburger Urteile den Rang von Bundesgesetzen. Doch Vorgaben der Verfassung wie die von ihr „geschützten Sicherheitsinteressen der Bevölkerung“ können sie laut Voßkuhle „nicht beseitigen“.
Und eine letzte Rückfalllinie baute Voßkuhle auf. Das Gericht will auch prüfen, ob „nachweislich höchst gefährliche Straftäter“ selbst dann in Sicherungsverwahrung bleiben müssen, wenn die frühere Rechtslage verfassungswidrig war. Besorgte Bürger dürfte das freuen, die Straßburger Richter weniger. (afp)