Hamburg.

Nach dem Tod seiner Frau zeigt der Altkanzler Gefühle, redet aber weiter Klartext und denkt an die Zukunft. An diesem Donnerstag wird Helmut Schmidt 92 Jahre alt. In Medien und Volk gilt er als der „weiseste Mann Deutschlands“. Schmidt ist Kult.

Helmut Schmidts politische Karriere begann um sieben Uhr früh am 17. Februar 1962. Der Orkan „Vincinette“ hatte das Nordseewasser in die Elbe gedrückt, die Hamburger Stadtteile Wilhelmsburg und Moorburg überflutet und 315 Menschen und 25 000 Tiere getötet. Überlebende froren auf den Dächern. Im Präsidium der Hansestadt übernahm der Polizeisenator das Kommando. Krisensitzung.

Das mit dem Kommando ist wörtlich zu nehmen. Er staucht, berichtet der Autor Alexander Schuller, die Verwaltung zusammen: „Herr Mohr, hopp, hopp an die Karte“. Er befiehlt der US-Armee, Hubschrauber zu schicken, was diese 17 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands bedingungslos tut. Er bürstet den Bürgermeister Nevermann ab, den Boss: „Paul, halte mich nicht mit unwichtigen Fragen auf“.

59 Jahre später gilt Schmidt in Medien und Volk als „der weiseste Mann Deutschlands“, als „einziger Politiker im Westen mit klarem Verstand“, als „cooler Kerl“. Eine Mehrheit der Jung-Manager würde ihm einen Konzern anvertrauen. Eine Mehrheit der Bundesbürger hätte ihn gerne wieder als Kanzler. Das Bemerkenswerte daran: Er weiß das. Er sieht es genau so.

Erster Kuss mit 15 Jahren

Helmut Schmidt wird heute 92. Er hat gerade seine Frau verloren, die er mit 15 erstmals geküsst hatte und mit der er 68 Jahre verheiratet war. Jetzt sitzt er im Rollstuhl im Hamburgs Thalia-Theater, wo es zwei Stunden nur um Helmut Schmidt geht. Nach 15 Minuten verschwindet sein Profil dauerhaft in einer Wolke von Menthol-Tabak, seine Äußerungen aber nehmen umso schärfere Konturen an: Was er über die politische Führung von heute denkt? Der fehle es manchmal an Fähigkeit, sagt er. So was trifft. In Berlin müssen sie rot werden vor Scham.

Der Mann hat in Deutschland nichts mehr zu kommandieren. Aber das Publikum liebt diesen Klartext. Es hält Schmidt für einen Macher, für einen, der durchgreift wie Anno 62. Für einen, der nicht dem Zeitgeist hörig ist. Schmidt ist Kult. „Wir Deutschen sehen in ihm all das, was gut für uns ist“, sagt Hamburgs Ex-Regierungschef Ole von Beust (CDU). Dass er selbst gut ist, hat der Altkanzler schon 1949 Professoren klar gemacht, die ihn zur Doktorarbeit drängten: Das sei Zeitverschwendung. Er werde ja den Ehrendoktor bekommen. Einen? Dreißig hat er heute.

Der Krisen-Kanzler

Acht Jahre hat Schmidt ­zwischen dem Rücktritt Brandts 1974 und Kohls konstruktivem Misstrauensvotum 1982 das Land regiert, mehr im Zwist mit seiner Partei als im Konsens. Nacheinander folgten Krisen: Ölpreis, RAF-Terror, der Nato-Doppelbeschluss, als es drohte, „dass jede sowjetische Rakete drei Atomsprengköpfe bekommen sollte, eine für Köln, eine für Essen, eine für Dortmund“. Er hat diese Krisen durchgefochten. Tränen kamen ihm, als die Befreiung der Geiseln der ­Boeing „Landshut“ gemeldet wurde. Wäre sie gescheitert, wäre er zurückgetreten.

Für Schmidt, der von sich sagt, dass „Emotionen nicht meine starke Seite sind“, war der Herbst 1977 der emotio­nale Höhepunkt der Amtszeit. Er habe in diesen Stunden Schuld auf sich geladen, die, dass er nichts für die Freilassung des entführten und ermordeten Arbeitgeberchefs Schleyer tun konnte. Also doch: Emotionen? Das, was ihm Parteifeinde wie Eppler und Lafontaine absprachen, was Brandt ihm nie zutraute?

Schmidt kennt Gefühle. Er ist verletzlich. Die Fehlgeburten seiner Frau, das Sterben des Sohnes mit neun Monaten, jetzt der Tod der geliebten Loki. „Das Weihnachtsfest 2010 wird nicht ganz so gut sein wie voriges Jahr“, sagt er. Man sieht feuchte Augen bei ihm, hört Worte der Einsamkeit: Alte Freunde? „Die ­meisten sind ja tot“. Auch politische Empfindungen ändern sich. Helmut Schmidt lässt Mitgefühl erkennen. Aus dem Macher wird die moralische Instanz, die 74 Prozent der Deutschen in ihm sehen.

Distanz zu Amerika

Die Themen des großen Alten verschieben sich. China und Europa, die Explosion der Bevölkerung in Asien, ihr Schrumpfen hier. „Keine Tagespolitik“. Aber die Nato-Organisation hält er für überflüssig, den Afghanistan-Krieg auch. Da ist Distanz zu Ame­rika und ein Lob „für Europas Sozialstaat“. Da ist aber kein Einknicken vor Parolen: D-Mark statt Euro? „Die Sehnsucht nach der D-Mark ist ungerechtfertigt“. Ob ­Menschen bis 67 arbeiten sollten? „Wenn Sie Glück haben“.

Er will noch mit 92 weiter machen. „Die Arbeit hilft“. Wöchentlich ist er 50 Stunden am Schreibtisch. Er lässt es zu, dass man über sein „zu Ende gehendes Leben“ redet. Aber er setzt, wie der Schmidt der Flut von 1962, selbst die Deadline. Es sei „wohl möglich“, sagt er denen, die ihn im Thalia mit Ovation verabschieden, dass er 2012 noch da ist.