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Wie sich der 91-jährige Alt-Kanzler bei Maischberger durchaus hörbar nicht in die Tagespolitik einmischt und für eine Renaissance des europäischen Gedankens wirbt.

Er genieße bei den Deutschen mittlerweile eine größere Glaubwürdigkeit als der Papst, begrüßte Sandra Maischberger gestern Abend ihren einzigen Talkgast im Studio. Und warum das so ist, hat Helmut Schmidt in den dann folgenden 75 Minuten eindrucksvoll belegt. Der Alt-Kanzler, der am 23. Dezember seinen 92. Geburtstag begeht, ist mittlerweile dauerhaft an den Rollstuhl gefesselt, hört schwer und wirkte zu Beginn der Sendung, als Maischberger sich danach erkundigte, wie Schmidt den Tod seiner Frau Loki verkrafte, tieftraurig und wehrlos. Doch er fängt sich rasch und redet sich warm – nicht zuletzt deshalb, weil Maischberger das Gespräch zu einem Thema lenkt, das Schmidt sichtlich am Herzen liegt: Die Zukunft Europas und der gemeinsamen Währung.

Da kommt die Stärke des gereiften Denkers zum Tragen. Es ist erstaunlich – aber der alte Mann ist mit seinem Faktenwissen auf einer Höhe, die die meisten Menschen niemals in ihrem Leben erreichen werden. Hinzu kommt der offensichtliche Wille, mit seinen Argumenten ganz nah bei der Realität und den Fakten zu bleiben. Das Ergebnis sind scharfe, unbequeme Analysen, die durch die hanseatische Sachlichkeit des Elder Statesman an Kraft noch gewinnen. Schmidt gönnt sich in der Debatte keine Ungenauigkeiten. Wenn er nichts zu einem Thema zu sagen hat, dann eiert er nicht herum. Wenn er nichts sagen will, greift er zum Argument, dass es ihm nicht zustehe„sich zur Tagespolitik zu äußern.“

„Gemeinsame europäische Währung ist notwendig“

Bei der Diskussion über Europa und den Euro allerdings greift er nicht zu diesem diplomatischen Kniff und hat einiges zu sagen: Die gemeinsame europäische Währung sei notwendig und habe als Instrument gegen Währungsspekulationen bestens funktioniert. Dass die Währung nun unter Druck geraten ist, sei auf einen grundsätzlichen Webfehler zurückzuführen. Eine gemeinsame Währung könne nur mit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik der beteiligten Staaten funktionieren. Die aber gab und gibt es bisher nicht. Der Stabilitätspakt als Ersatz dafür habe nie funktioniert, weil Deutschland und Frankreich von Beginn an dagegen verstoßen hätten – ein völlig falsches Signal, das Länder wie Griechenland und Italien für sich ebenso falsch interpretierten.

Die Rettung des Euro wiederum sei alternativlos. „Denn was wäre denn die Konsequenz? Die Rückkehr zur D-Mark?“ Schmidt warnt vor solchen Überlegungen: Damit beginne das alte Spiel: Die deutsche Währung würde wahrscheinlich extrem aufgewertet, das Wachstum völlig eingebremst. Die Währungen der südlichen Länder dagegen würden von Spekulanten zertrümmert. Am Ende, so räsoniert Schmidt knurrig werde das alles sehr viel teurer als jedes Rettungspaket für den Euro.

Also müsse der Euro in jedem Fall bewahrt werden und deshalb sei auch jede Hilfe für die Staaten notwendig, die in der Krise steckten. Insofern habe die Kanzlerin und ihre Regierung falsch gehandelt, als sie solche Hilfen erst einmal abgelehnt hätten. „Kurzsichtig“ sei das. Stattdessen müsse man versuchen, die notwendigen Hilfen an politische Zugeständnisse zu koppeln, um mittelfristig zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu kommen – „um Europa zu schützen“. Nach Schmidts Ansicht steht in diesem Jahrhundert „die Selbstbehauptung“ der europäischen Zivilisation auf dem Spiel: China, Indien, Brasilien, Südostasien – das seien die Staaten und Regionen, die in den kommenden Jahrzehnten deutlich an Macht und Einfluss gewinnen. Finde Europa nicht zu einem gemeinsamen politischen Handeln, werde es an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit gedrängt.

Kein Rütteln am Nato-Doppelbeschluss

Immer wieder versucht Maischberger dem Altkanzler Bewertungen der aktuellen Politiker zu entlocken – doch Schmidt sträubt sich. Da bleibt er meist diplomatisch. Immerhin hört man heraus, dass er von der europäischen Kompetenz der Kanzlerin wenig hält, Finanzminister Wolfgang Schäuble „respektiert“ er immerhin. Während er Peer Steinbrück über den grünen Klee lobt, lässt er sich zu SPD-Chef Sigmar Gabriel nur ein „kein Kommentar“ entlocken. Einmal wird er sogar sehr ehrlich: Mit US-Präsident Jimmy Carter verband ihn eine offene gegenseitige Antipathie.

Und wenn es um seine eigenen Entscheidungen geht, bleibt er felsenfest. Maischberger versucht etwa eine Analogie herzustellen zwischen den Demos in Stuttgart gegen den neuen Hauptbahnhof und jene Proteste gegen den von Schmidt befürworteten Nato-Doppelbeschluss – aber der Altkanzler will keine Parallelen erkennen. Dort gehe es um einen Bahnhof, beim Doppelbeschluss um nukleare Bedrohung. In Stuttgart hätten Politik und Medien dabei versagt, das Bauvorhaben in einer frühen Phase zu kommunizieren und transparent zu machen. Bei der Debatte um die Stationierung der Pershing-Raketen in der Bundesrepublik hätten die Gegner sich vornehmlich von Furcht treiben lassen und die politischen Spielräume übersehen. Die Geschichte ist bekannt. Der SPD-Kanzler will den Doppelbeschluss gegen seine Partei durchdrücken und verliert den Rückhalt. Es ist das Ende seiner Kanzlerschaft. Sein Nachfolger Helmut Kohl setzt den Doppelbeschluss um – ein paar Jahre später muss die Sowjetunion einsehen, dass sie das Rüstungswettrennen verloren hat. 1987 wird ein umfassender Abrüstungsvertrag unterzeichnet. Und Michael Gorbatschow leitet den Fall der Mauer ein. Helmut Schmidt hatte Recht, kommentiert aber nur nüchtern: „Ein Politiker muss manchmal riskieren, für seine Überzeugungen sein Amt zu riskieren.“.

Das ist das Schema Schmidt: Fakten prüfen, analysieren, entscheiden, erklären, nicht mehr abweichen. Das vermisst er in der „politischen Klasse“, in die er auch die Journalisten einschließt. Beispiel: der Fall Sarrazin. Schmidt meint, Sarrazin hatte Recht mit vielen seiner Thesen – außer der unseligen Vererbungsdebatte. Aber dass die Integration von Menschen mit völlig anderen zivilisatorischen Wurzeln an Grenzen stoße, sei nicht mehr zu leugnen . Das habe die politische Klasse bei der ersten Bewertung von Sarrazins Buch beiseite schieben wollen – und stand damit im Gegensatz zur Bevölkerung. Schmidt ist daher strikt gegen weitere Zuwanderung von Menschen mit zivilisatorischen Wurzeln, die weit von der unsrigen entfernt sind – speziell aus muslimischen Ländern. Er sehe dafür auch keinen Bedarf angesichts der erweiterten EU mit den östlichen Mitgliedern. Und natürlich würde er auch Sarrazin nicht aus der SPD werfen. Wie gesagt, zur Tagespolitik wolle er sich ja nicht äußern …. Sprachs und rauchte seine achte Menthol-Zigarette in 75 Minuten.