Berlin. .
Tobias K. betrieb in Berlin eine so genannte „offene Wohnung“. Bis zu 70 Kinder und Jugendliche gingen bei ihm ein und aus. Sie konnten fast jederzeit kommen. Als sie Vertrauen hatten, missbrauchte Tobias K. die Kinder.
Den Sessel wird Moritz wohl nie vergessen. Wenn er aus der Küche etwas zu trinken holen wollte, musste er daran vorbeigehen. In dem Sessel saß Tobias K.. Immer wieder musste der damals zwölf Jahre alte Moritz sich auf den Schoß des Mannes setzen. Immer wieder griff der etwa 40-jährige Mann dem Jungen zwischen die Beine. Ein Versehen, dachte Moritz die ersten Male. Doch es war kein Versehen, es wurde immer schlimmer. Und noch schlimmer. Und Moritz war nicht der einzige.
Ein Plattenbau in einem Neubaugebiet am Berliner Stadtrand: Hier hat Tobias K. gewohnt. Hier hat er Moritz sexuell missbraucht - so wie Dutzende von anderen Kinder. Über Jahre ging das so. Die Nachbarn hatten lange nichts bemerkt. Sagen sie.
Bis zu 70 Kinder und Jugendliche gingen bei Tobias K. ein und aus
Tobias K. betrieb eine der sogenannten „offene Wohnungen“, die es bis heute in deutschen Großstädten gibt. Bis zu 70 Kinder und Jugendliche gingen bei ihm ein und aus. Sie konnten fast jederzeit kommen. Tobias K. spielte und unterhielt sich mit ihnen - dann nahm er den Kindern ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl und das Gefühl, Menschen vertrauen und Situationen kontrollieren zu können.
2004 wurde Tobias K. festgenommen und kam ins Gefängnis. Moritz, der eigentlich anders heißt, ist heute 19, hat eine Lehrstelle und es geht ihm wieder ganz gut. Doch die offenen Wohnungen sind geblieben - in Berlin, in Hamburg und wahrscheinlich auch in München und anderen Großstädten. Allein in Berlin-Neukölln gibt es nach Informationen der Nachrichtenagentur dapd zurzeit neun offene Wohnungen, im Bezirk Treptow-Köpenick sind es fünf. Die Anschriften sind der dapd teilweise bekannt.
Auch Beratungsstellen berichten von den „offenen Wohnungen“. „Wir wissen, dass es sie in allen Berliner Bezirken gibt“, sagt Marek Spitczok von Brisinski von der Einrichtung „Berliner Jungs“.
Diese Männer gehen nicht zu Therapeuten - sie wollen ihr sexuelles Verlangen ausleben
Es sind Privatwohnungen von pädophilen Männern. Männer, die nicht zum Therapeuten gehen, um zu lernen, wie sie mit ihrer sexuellen Neigung umgehen sollten. Diese Männer wollen ihr sexuelles Verlangen ausleben. Sie sprechen die Jungen - meist zwischen zehn und 15 Jahren - auf offener Straße an. Oder in Schwimmbädern, auf Spielplätzen, in Einkaufszentren.
Moritz erfuhr von einem Schulkameraden von der Wohnung. Am Anfang war er begeistert. „Der Mann war freundlich. Es gab was zu trinken und wir konnten Playstation spielen. Wir haben da öfter abgehangen“, erinnert sich Moritz. „Manche Wohnungen sehen fast aus wie ein Jugendzentrum“, sagt Marek Spitczok von Brisinski. Am Ende stehe praktisch immer der sexuelle Übergriff.
Die Männer suchen sich ihre Opfer gezielt aus. Auch bei Moritz war das so. Er war schüchtern und unsicher, zu Hause gab es oft Ärger. Und: Moritz wuchs ohne Vater auf. Marek Spitczok von Brisinski kennt das. Bei seinen Beratungen erlebt er immer wieder, dass besonders Jungen, die entweder gar keinen Vater oder ein emotional gestörtes Verhältnis zu ihm haben, besonders gefährdet sind. „Viele Pädosexuelle wissen, dass sie da größere Chancen haben“, sagt Spitczok von Brisinski. „Manche Männer gehen sogar zur Mutter oder den Eltern und stellen sich als Sozialarbeiter vor. Viele glauben das.“
Übergriffe schon nach einer Woche
Bei Moritz fingen die Übergriffe schon nach einer Woche an. Der Junge wehrte sich nicht. Er ging sogar weiter zu Tobias K.. Mehr als ein Jahr lang, fast jeden Tag. Am Wochenende übernachtete er in der Wohnung. „Das ist oft so“, sagt Spitczok von Brisinski. Zu Hause hätten die Jungen Ärger und keinen Ort der Ruhe. Die Männer würden sich mit ihnen beschäftigen und ihnen zuhören. „Beim sexuellen Übergriff verstehen die Jungen dann gar nicht, was da passiert und sind einfach überfordert. Sie lassen es geschehen und hoffen, dass es beim nächsten Mal nicht wieder vorkommt“, sagt Spitczok von Brisinski.
Schädigungen bis hin zu schweren Depressionen oder Angstattacken bleiben fast immer zurück. Auch Moritz war traumatisiert, als er zu den „Berliner Jungs“ kam. „Er hatte die Baseballkappe immer tief ins Gesicht gezogen und bei den Gesprächen nur auf den Boden geschaut“, sagt Spitczok von Brisinski. Zwei Jahre lang wurde Moritz von den „Berliner Jungs“ beraten. Sie halfen ihm, die Probleme in der Familie und in der Schule zu klären. Die Gespräche seien befreiend gewesen, sagt Moritz heute. „Ich wurde offener, habe jetzt mehr Freunde, mache Breakdance, spiele Fußball und gehe manchmal sogar abends in Clubs.“
„Offene Wohnungen“ seien ein besonderes Problem
Moritz war damals auch bei Thomas Hoffmann. Er ist Hauptkommissar im Berliner Landeskriminalamt und zuständig für Sexualdelikte. Hoffmann ist einiges gewohnt. Delikte wie gewaltsamer Analverkehr mit 12-Jährigen gehören für ihn zum Berufsalltag - Polizeiroutine. Doch die „offenen Wohnungen“ sieht auch er als besonderes Problem.
Die Täter knüpften über Jahre hinweg Kontakte zu immer mehr Jungen, die auch Freunde in die Wohnungen mitbrächten. „Deswegen gibt es dort oft besonders viele Opfer“, sagt Hoffmann. Die Verdächtigen sind oft alte Bekannte. „Die Gruppe der Pädophil-Homosexuellen ist unter den Sexualstraftätern die mit der höchsten Rückfallquote“, sagt Hoffmann.
Manchmal, aber viel zu selten, gebe es wegen „offener Wohnungen“ Hinweise von Eltern oder Nachbarn. Hoffmann und seine Kollegen ermitteln dann, manchmal folgen Hausdurchsuchungen. In den Handy-Telefonbüchern der Männer finden sie oft unzählige Nummern von minderjährigen Jungen.
Vernehmungen sind für die Opfer oft belastend
Dann beginnen die Vernehmungen: Für die Jungen sind sie oft belastend, und die Beamten spüren, wie perfide, aber auch wie wirkungsvoll die Täter ihre Opfer eingeschüchtert haben. „Die Jungen erzählen oft nicht, was passiert ist“, sagt Hoffmann. Geheimnisse müsse man schließlich für sich behalten - das hätten die Männer den Jungen immer wieder eingetrichtert.
Hoffmann ist weder Kinderpsychologe noch Erzieher. Ihm und seinen Kollegen geht es um Ermittlungserfolge. Und so werden die mitunter traumatisierten Kinder in ganz normalen Büroräumen vernommen. Oft geht es um Details. Welche Berührungen gab es, kam es zur Penetration? Um Richter und Staatsanwälte zu überzeugen und Sexualstraftäter möglichst lange hinter Schloss und Riegel zu bringen, müsse der Sachverhalt so genau wie möglich geklärt werden, sagt Hoffmann. Eine psychologische Zusatzausbildung haben die vernehmenden Beamten nicht.
„Nicht du bist verrückt, sondern das, was Dir passiert ist“
Den „Berliner Jungs“ geht es weniger um Details oder um die Täter, sondern um die Kinder. „Viele fühlen sich schuldig, weil sie trotz der Übergriffe immer wieder zu den Männern hingegangen sind. Manche denken auch, mit ihnen stimme etwas nicht“, sagt Spitczok von Brisinski. „Nicht Du bist verrückt, sondern das, was Dir passiert ist“ - das sei die wichtigste Lektion, die die Berater den Jungen vermitteln wollten.
Neben den Beratungen ist auch die Prävention ein Schwerpunkt der „Berliner Jungs“. Die Mitarbeiter klären mit Theaterstücken auf, sie gehen in Schulen, Schwimmbäder und verteilen Infobroschüren vor Einkaufszentren, Sport- und Spielplätzen. Die meisten Eltern seien dann ganz entsetzt, sagt Spitczock von Brisinski. „Viele der Jungen, mit denen wir sprechen, haben aber schon von den offenen Wohnungen gehört oder waren sogar selbst in einer“, sagt der Diplom-Soziologe.
Perfider Aspekt der kriminellen Pädophilie
Die Existenz der offenen Wohnungen ist ein besonders perfider Aspekt der ausgelebten, kriminellen Pädophilie. Sexualwissenschaftler schätzen, dass es in Deutschland rund 250.000 pädophile Männer gibt. Aber nicht alle leben ihre Neigung aus. Einige versuchen, in Therapien damit umzugehen oder nehmen Medikamente, um Übergriffe eigenständig zu verhindern.
Viele aber vergreifen sich an Kindern. Offene Wohnungen spielen dabei offenbar eine wachsende Rolle. Sie gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Großstädten. Die Pressestellen der Hamburger, der Münchener, der Kölner und der Frankfurter Polizei dementieren das zwar. Doch Beratungsstellen zeichnen ein anderes Bild. „Bei uns gibt es mindestens drei „offene Wohnungen““, sagt Meent Adden von der Hamburger Beratungsstelle „Basis und Woge“. Er gehe zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. In München ist es offenbar ähnlich. „Wir haben keine Projekte wie in Berlin, die sich darum kümmern. Aber ich gehe fest davon aus, dass es auch bei uns „offene Wohnungen“ gibt“, sagt Wolfgang Zeilnhofer-Rat von der Münchener Beratungsstelle Marikas. Es sei eben ein „Schmuddelthema“, mit dem sich niemand beschäftigen wolle. (dapd)