Halle.

Gerade noch lief es so gut für die Sozialdemokraten. Jetzt spalten Thesen über Muslime und Juden die Partei. Ihre Zentrale wird mit E-Mails bombardiert, und das Telefon des Chefs stört lang vorbereitete Ortstermine.

In Halle an der Saale gibt es Hallenser, Halloren und Halunken. Hallenser sind hier geboren. Halloren stammen aus alteingesessenen Familien. Die Halunken sind im Volksmund Zu- und Durchgereiste, wie an diesem Tag Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef ist in Halle-Neustadt, um sich über die Folgen des demografischen Wandels zu informieren: Schwindsüchtige Städte, leerstehende Gebäude, Tausende von Wohnungen, die der Abrissbirne zum Opfer fallen. Gabriel lebt vor, was er von der SPD seit einem Jahr fordert. Er ist da, wo es brodelt. Mehrmals wird er während der Tour ans Telefon gebeten. Denn auch in der SPD brodelt es. Der Fall Sarrazin holt ihn hier ein. Gabriel muss eine Frage aus der Welt schaffen: Macht die SPD kurzen Prozess mit einem Querkopf?

Die Debatte passt der Gabriel-SPD überhaupt nicht. Gerade schien die Partei eine Frischzellenkur hinter sich zu haben: Streitfragen geklärt, Umfragewerte, die hoffen ließen. Zum Thema Integration waren längst Fachkonferenzen geplant, die nun, nachträglich, aussehen, als reagiere man auf Sarrazin; als habe erst der Bundesbank-Vorstand ihr mit seinem Buch die Augen geöffnet: für die Parallelgesellschaften und die Probleme mit der Integration von Migranten. Gabriel ist verärgert. Höchstpersönlich betreibt er Sarrazins Ausschluss aus der SPD. Im Vorstand gab es dafür Beifall. Viele in der Basis ziehen bei der harten Linie mit. Aber: Es gibt auch viel Unverständnis.

Über 2000 E-Mails sollen im Willy-Brandt-Haus angekommen sein

Gabriel kennt die Zuschriften und Anrufe. Nicht immer sind es Genossen. Schätzungsweise fallen die Reaktionen aber zu 90 Prozent pro Sarrazin aus. Über 2000 E-Mails sollen im Willy-Brandt-Haus eingegangen sein. Bestätigt wird die Zahl in Berlin nicht, aber sie macht schon eine Größenordnung deutlich. Gabriel räumt in Interviews ein, dass ein Ausschluss „an der SPD-Basis nicht leicht zu vermitteln ist.“ Für die einen spricht Thilo Sarrazin unbequeme Wahrheiten aus. Ihnen hält Gabriel entgegen, die „rote Linie“ habe Sarrazin nicht mit seinem Buch, sondern mit der Behauptung überschritten, dass sich Intelligenz und Leistung in verschiedenen Kulturen genetisch vererben würden. Wenn man das zu Ende denke, so Gabriel, lande man wieder bei Rassentheorien.

Andere ärgern sich darüber, dass die SPD aus Sarrazin einen „Märtyrer“ mache. Der Abgeordnete Johannes Kahrs hat soeben davor gewarnt, während der Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, Heinz Buschkowsky, dazu rät, sich mit Sarrazin auseinanderzusetzen.

Da droht der Partei ein Streit. Das ist erfahrungsgemäß keine gute Werbung in der Politik. Streit wird mit mangelnder Geschlossenheit gleichgesetzt, und das würde wiederum die Gabriel-SPD zurückwerfen.

Es soll nicht nach einem kurzen Prozess aussehen. Das ginge auch nicht, weil sich Sarrazin vom Kreis- über den Berliner Landesverband bis zur Bundesschiedskommission zur Wehr setzen kann. Das kann sich monatelang hinziehen; bis zum Jahr 2011 mit seinen sechs Landtagswahlen verschleppt werden.

Merkel nutze die Schwäche der SPD als erste

Der Druck, der auf dem SPD-Chef lastete, war zuletzt groß. In der Partei und in der Öffentlichkeit schwappten die Wellen der Empörung über Sarrazins Thesen hoch. Obenauf surfte Angela Merkel. Kanzlerin war die erste Kritikerin im Land. Gerade von ihr wollte sich die SPD-Spitze nicht vorführen lassen.

Natürlich hat man mit Sarrazin geredet. Generalsekretärin Andrea Nahles hat es versucht. Gabriel rief ihn noch an dem Tag an, als das Buch des Bundesbank-Vorstands auf den Markt kam. „Mir wäre es auch lieber, wenn sich Thilo Sarrazin von seinen kruden Thesen distanziert hätte“, sagte er danach. Doch allzu überzeugend war Gabriel offenkundig nicht, viele Sanktionsmittel standen ihm ja auch nicht zur Verfügung. Sarrazin hat keine Funktion in der Partei. Er ist ein einfaches Mitglied. Er konnte aus keinem Amt abgewählt oder sonst unterschwellig abgestraft werden. Und sein Ausschluss ist auch nicht so einfach. Erst mal wartet man ab, wie die Juristin der SPD ihn begründen will: Gegen welche Grundwerte der Partei hat Sarrazin verstoßen?