Essen. .

Die gesetzlichen Krankenversicherungen geben jährlich etwa 1,21 Millarden Euro für die Krebs-Früherkennung aus. Ein Expertenstreit um den Nutzen der Vorsorge ist entbrannt. Kritiker sprechen von „Irreführung der Menschheit“, während andere weiter für die Untersuchungen werben - trotz Fehldiagnosen.

Wer die Diagnose „Krebs“ hört, erlebt meist einen Schock. „Krebs“, das klingt schlimmer als „Herz-Kreislauf-Erkrankung“, dabei ist das die Todesursache Nummer eins. Doch Krebs ist ein Schreckgespenst. Eine Krankheit, die extremes Leiden bedeuten kann.

Weil die Menschen Angst haben vor Schmerzen und qualvollem Dahinsiechen, nutzen sie in hohem Maße die Früherkennung. Für Ärzte wie Prof. Wolff Schmiegel, Präsident des letzten Deutschen Krebs-Kongresses in Berlin und Chefarzt der Bochumer Unikliniken Bergmannsheil und Knappschafts-Krankenhaus, ist das vernünftig.

Unterschätzter Schaden

Er kennt die Skeptiker. Hat sie aufgefordert, beim Krebskongress zu sprechen. Nur eine sei gekommen. Prof. Ingrid Mühlhauser, die große Dame der Krebsvorsorge-Kritik vom Lehrstuhl für Gesundheitswissenschaften an der Uni Hamburg. Sie ist der festen Überzeugung, dass es wissenschaftlich nicht haltbar sei, den Nutzen der Darmkrebs-Spiegelung so hoch zu hängen, wie es getan werde. Sie hält den Nutzen für über- und den Schaden unterschätzt. Es bleibe auch unklar, wie hoch der Anteil der Überdiagnosen sei.

„Bösartige Tumore der rechten Darmhälfte werden entgegen bisheriger Annahmen offenbar durch die Koloskopie nicht reduziert.” Längst nicht jeder Polyp werde zu Krebs. Das aber sei der Öffentlichkeit nicht genau bekannt.

Mühlhauser weist auf die Belastung durch die Darmspiegelung hin, wie die Darmreinigung. Die vielen Liter, die getrunken sein wollten. All das könnte bei älteren Patienten oder Diabetes-Kranken zu Komplikationen führen. „Diese Fälle werden nicht regis-triert.” Mühlhauser führt die Schadensbilanz des Zentralinstitutes für die Kassenärztliche Versorgung an: Eine Reihe von Krebs-Patienten seien bei und nach der Operation verstorben. Die Sterblichkeit während des stationären Aufenthaltes von Operationen betrage sechs Prozent. Auch seien Komplikationen wie Darmdurchbrüche oder Gefäßverletzung bei der Darmspiegelung möglich.

Der Darm-Experte Prof. Schmiegel kann die Argumente nicht nachvollziehen. Die angebliche Nutzlosigkeit wie auch die Gefahren seien „durch keine Fakten belegt“. Sicher hingegen sei, so Schmiegel, dass in den letzten sieben Jahren 15 000 Menschen durch die Darmspiegelung gerettet wurden. Schmiegel bezieht sich auf Untersuchungen des Deutschen Krebsforschungs-Zentrums in Heidelberg (1,857 Millionen Darm-Spiegelungen). „Es könnten sogar 150 000 Leben gerettet werden, wenn die Menschen ab 55 verstärkt zur Spiegelung gingen“, sagt er.

Eine Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ergab 2007: Knapp ein Drittel der Fünfzigjährigen hat sich den Dickdarm spiegeln lassen. Etwa 80 Prozent der Frauen ab 20 gehen zur Vorsorge.

Prof. Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Leiter des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, hält die Krebs-Früherkennung nicht für schlecht. Aber er hält die Information über sie für miserabel. Er möchte, dass „die Menschen endlich klare Informationen über den wirklichen Nutzen, aber auch über den Schaden“ erhalten.

Zum Beispiel werde der Nutzen beim Brustkrebs-Screening (Reihen-Röntgen- Untersuchung der Brust) aus seiner Sicht überschätzt. Und das, weil Statistiken falsch interpretiert würden.

Von 1000 Frauen, die zur Mammografie gehen, stirbt etwa eine weniger an Brustkrebs als ohne Mammografie, sagt Gigerenzer. Er wie auch Klaus Koch von der Stiftung Warentest verweisen auf Ungereimtheiten. Immer sei die Zahl von „dreißig Prozent auf dem Markt“, die so ausgelegt werde: 30 Prozent von hundert Frauen überleben mit Mammografie, ohne würden sie sterben.

Irreführende Aussage

„So etwas ist Volksverdummung“, sagt Gigerenzer. Endlich müsse Klarheit in das Zahlenverwirr-Spiel. Also: Acht von 1000 Frauen erkranken im Laufe von zehn Jahren an Krebs. Mit Mammografie sind es etwa sieben. Diese Verringerung (sieben statt acht Frauen) werde als 30 Prozent berechnet. „Das klingt so, als ob dreißig Frauen von hundert, die an der Mammografie teilnehmen, gerettet werden könnten.“ Eva Kalbheim von der Deutschen Krebshilfe: „Eine Frau auf tausend – das ist eine Menge. Vor allem, wenn man es hochrechnet auf Millionen Frauen.“

Eine andere Eigenschaft der Mammografie jedoch wird von vielen Gynäkologen als großer Mangel betrachtet: Bei etwa 40 von 1000 Mammografien wird etwas Auffälliges gefunden. Diese Frauen erlebten Angst und Schrecken – obwohl sie kerngesund sind.