Essen. Wer sich selbst kräftig ins Fleisch schneiden will, der wählt AfD. Sie macht Arme ärmer – und vor Ort kann von seriöser Politik keine Rede sein.

Den Preis der Woche für den am konsequentesten von Tassen befreiten Schrank gewinnt CDU-Chef Friedrich Merz. Einmal mehr hat er mit einer unbedachten Interviewäußerung seine Kanzler-Unfähigkeit unter Beweis gestellt und seiner Partei einen Bärendienst erwiesen. Seine in der Sache zwar falsche, in der Wirkung aber fatale indirekte Botschaft war: Flüchtlinge kommen auch deshalb nach Deutschland, um sich „die Zähne neu machen“ zu lassen, während dem braven Deutschen im Wartezimmer nur das zweifelhafte Vergnügen bleibt, den Bohrgeräuschen von nebenan zu lauschen.

Am liebsten würde ich jetzt schreiben, dass kein Mensch einen solchen Quatsch ernsthaft glauben kann. Die Wahrheit sieht aber offenbar leider ganz anders aus.

22 Prozent würden AfD wählen

Mehr als jeder fünfte Bürger unterstützt inzwischen die Partei, die für nahezu jedes Übel in Deutschland die Migration verantwortlich macht: die AfD. 22 Prozent würden bei der nächsten Bundestagswahl die Rechtspopulisten wählen, in deren Reihen der Extremismus immer mehr Gewicht bekommt. Was aussieht, wie die jüngste Umfrage aus Thüringen oder dem noch ferneren Sachsen, ist das Ergebnis des bundesweiten, frisch veröffentlichten Deutschlandtrends der ARD. Die Kanzlerpartei SPD erreicht demnach nur noch 16 Prozent, CDU/CSU kommen auf 28 Prozent – zu wenig angesichts der schlechten Performance der Ampel-Koalition. So langsam sollte es Merz und Co. dämmern, dass sie mit ihrer Anbiederung an den Rechtspopulismus die AfD stärker und stärker machen.

Nun könnte man, um dem Trend entgegenzuwirken, einmal mehr das Klagelied von der gefährdeten Demokratie anstimmen. Man könnte auf die völkisch-nationalen Positionen in der AfD verweisen, darauf, dass sie bewusst Hass schürt und das ohnehin angespannte gesellschaftliche Klima gezielt weiter vergiftet. All das wäre nicht falsch. Aber bringt es auch etwas? Ist das geeignet, um jene Enttäuschten zurückzubringen auf den Pfad der Demokratie?

Wechselwähler wachrütteln

Ich spreche hier nicht von den eingefleischten Nazis, die es in unserer Gesellschaft leider auch gibt, die aber noch immer eine kleine Minderheit darstellen. Die wird man mit Argumenten kaum erreichen. Es geht um Menschen aus unserer Mitte, die sich benachteiligt fühlen, ausgeschlossen und abgehängt: Arbeitslose, die keine Perspektive für sich sehen, Familien, denen die Mietkosten über den Kopf wachsen, Rentner, die sich kaum noch die Butter auf dem Brot leisten können. Diesen Menschen müssen wir zurufen, was nun sogar wissenschaftlich belegt ist: Sie schaden sich selbst am meisten, wenn sie AfD wählen. Denn die sozialpolitischen Ziele der AfD richten sich paradoxerweise zuerst gegen ihre eigene Wählerklientel.

Einer vor wenigen Wochen veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge würde eine AfD-Regierung die AfD-Wähler ärmer machen. Die AfD stehe für eine „extrem neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik“, für Steuersenkungen, von denen vor allem Wohlhabende profitieren, und für die Kürzung von Sozialleistungen. In ihrem Bestreben, den Sozialstaat zu beschränken, sei die AfD deutlich radikaler als die FDP. Mindestlohn? Bürgergeld? Mieterschutz? Das alles ist mit der AfD nicht zu machen. Wissen das die 22 Prozent, die ihr Kreuz bei dieser Partei machen wollen?

AfDnee – faktenbasierte Kampagne

„AfDnee“ heißt eine Kampagne, die der Frankfurter Verein „Demokult“ initiiert hat, dessen Vorsitzender ein DGB-Funktionär ist. Fast überall in den sozialen Netzwerken begegnet man derzeit den Bildmotiven von „AfDnee“, die sehr anschaulich und vereinfacht darlegen, was die Partei wirklich im Schilde führt. So verspricht die AfD scheinbar großzügig „Freiheit beim Renteneintritt“, will eine abschlagsfreie Rente jedoch erst nach kaum erreichbaren 45 Beitragsjahren gewähren. Sie verspricht eine Stärkung des öffentlichen Personenverkehrs, will aber die Ticketpreise deutlich erhöhen. „Inklusion mit Augenmaß“ bedeutet nach AfD-Lesart, Menschen mit Behinderung auszugrenzen. Das sind nur drei Beispiele von unzähligen. Auf einer Website von Demokult gibt es einen Faktencheck mit genauen Quellenangaben. Wann immer AfD-Funktionäre behaupten, das stimme alles nicht, werden sie hier der Lüge überführt.

Bilder der Kampagne „AfD nee“ zur hessischen Landtagswahl

Die Kampagne richtet sich mit mehreren Motiven an potentielle Wähler und Wählerinnen der AfD. Auf der Webseite www.AfDnee.de findet man einen Fakten-Check, der alle Aussagen und Zitate auf den Plakaten einordnet.
Die Kampagne richtet sich mit mehreren Motiven an potentielle Wähler und Wählerinnen der AfD. Auf der Webseite www.AfDnee.de findet man einen Fakten-Check, der alle Aussagen und Zitate auf den Plakaten einordnet. © Handout | AfDnee.de
Die Kampagne richtet sich mit mehreren Motiven an potentielle Wähler und Wählerinnen der AfD. Auf der Webseite www.AfDnee.de findet man einen Fakten-Check, der alle Aussagen und Zitate auf den Plakaten einordnet.
Die Kampagne richtet sich mit mehreren Motiven an potentielle Wähler und Wählerinnen der AfD. Auf der Webseite www.AfDnee.de findet man einen Fakten-Check, der alle Aussagen und Zitate auf den Plakaten einordnet. © Handout | AfDnee.de
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Was die AfD wirklich will, was sie wirklich tut, lässt sich nicht zuletzt auch in unseren Städten beobachten. Wittens AfD-Fraktionschef Matthias Renkel etwa findet, „sozial“ sei das, was die Menschen in Witten in die Lage versetze, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, statt sich von „Transferleistungen der Stadt“ abhängig zu machen. Ähnlich „sozial“ klingt das bei dem AfD-Fraktionschef im Rat der Stadt Oberhausen, Wolfgang Kempkes: „Die verfehlte Steuer- und Sozialabgabenpolitik reduziert die individuelle Freiheit der Bürger.“ Essens AfD-Kreisvorsitzender Günter Weiß wettert derweil gegen die Mietpreisbremse. Diese führe „nur dazu, dass noch weniger gebaut wird“.

AfD stimmt gegen Wildblumen

Abgesehen davon fallen die Kommunalpolitiker der „Alternative für Deutschland“ eher durch alternatives Verhalten auf denn durch sachgerechte Arbeit zum Wohle der jeweiligen Stadt. Entweder sind sie so gut wie gar nicht sichtbar, stellen so gut wie keine Anträge. In Mülheim zum Beispiel stammen von den 320 Anträgen und Anfragen der Parteien im Stadtrat in diesem Jahr nur 17 von der AfD – und da ging es meist um personelle Umbesetzungen. Sofern von den AfD-Leuten etwas Inhaltliches kommt, ist es banaler Populismus. Beliebt sind etwa Anträge gegen das Gendern in Verwaltungsdokumenten (so in Gelsenkirchen geschehen, in Bottrop, in Herne, in Oberhausen). In Mülheim stimmte die AfD tatsächlich gegen ein Bürgerprojekt für eine Wildblumenwiese. (Ironie an.) Wildblumen – kann man sich ein schlimmeres Symbol vorstellen für linksgrün-versiffte Politik? (Ironie aus.)

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Natürlich gibt es auch mal seriösere Ansätze. Nicht alles, was die AfD in Gelsenkirchen oder Essen oder Duisburg tut, wo man auch gemäßigtere, sich bürgerlich gebende Leute finden kann, ist per se schlecht. Andererseits tun sich immer wieder Abgründe auf, was die charakterliche Eignung so mancher AfDler betrifft. Interne Machtkämpfe bis hin zu regelrechten Schlammschlachten sind keine Seltenheit. Nachdem sich die AfD in Herne vor zehn Jahren in den Herner Rat wählen ließ, erbrachte sie sechs Jahre lang kaum einen Arbeitsnachweis. Auch in dieser Ratsperiode lief nicht viel zusammen. Noch vor der ersten Sitzung der neuen fünfköpfigen Fraktion zerbrach diese im Streit um Posten, Einfluss und Geld. Die Spitze des Eisbergs stellte Bochum im vergangenen Jahr dar: Hier verließ die gesamte AfD-Fraktion die eigene Partei.

Hass und Missgunst, meist die Antriebsfedern für Menschen, um sich bei Rechtsradikalen zu engagieren, richten sich offenbar gern auch mal gegen sich selbst. Ehrlich gesagt: Ich würde mich auch nicht mögen, wenn ich so wäre.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Auf bald.