Essen. Die Migration wächst uns über den Kopf. Die Demokratie ist unmittelbar bedroht. Wir brauchen ein radikales Umdenken, bevor die Radikalen kommen.
Nein, wir schaffen es nicht.
Es ist ja nicht nur die Migration, die uns über den Kopf wächst – die fehlenden Unterkünfte, die scheiternde Integration und die daraus erwachsende Gefahr, dass ein Teil der Menschen, die zu uns kommen, den Weg in die Kriminalität gehen. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Folgen, die nicht mehr beherrschbar sind. Wenn wir darüber berichten müssen, dass den NRW-Kommunen der finanzielle Kollaps droht, dass Schwimmbäder geschlossen, Sozialleistungen gekürzt und bei der Jugendhilfe vor Ort gespart werden muss, und dies auch etwas damit zu tun hat, dass der Zustrom von Geflüchteten zu viel Geld kostet, dann verwandelt sich die latente Politikverdrossenheit mehr und mehr in eine System-, in eine Demokratieverdrossenheit.
Dafür können Flüchtlinge nichts
Natürlich ist die Welt viel komplexer. Wir verbocken in Deutschland gerade eine Menge, ohne dass es einer Zuwanderung bedarf. Brücken marode werden zu lassen, die Digitalisierung zu verschlafen und zugleich in einer überbordenden Bürokratie zu ersticken, um nur ein paar Beispiele zu nennen – das bekommen wir Deutschen ganz gut alleine hin. Die finanzielle Schieflage von Städten und Gemeinden (nur noch eine von fünf NRW-Kommunen kann einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen) ist zuerst eine Folge der Pandemie, der Inflation und des Versagens der verschiedenen politischen Ebenen, die Kommunalfinanzen nachhaltig zu sanieren. Aber dann tauchen doch ein paar Schlüsselbegriffe in einem Atemzug auf, die in der Kombination toxisch wirken: „Migrationskrise“ und „Schwimmbadschließung“ etwa – und fertig ist das braune Gebräu, in dem wir leicht versinken könnten.
Ja, die internationale Lage ist ernst. Der Flüchtlingsdruck steigt. Und er wird noch erheblich zulegen. Die Europäische Union, zu deren Fundamenten nicht zuletzt so etwas gehören sollte, was man gerne „europäische Solidarität“ nennen würde, findet in dem Zusammenhang praktisch schon seit Jahren nicht mehr statt. Die EU ist diskreditiert, sie ist abgemeldet. Was den politisch Verantwortlichen auf allen staatlichen Ebenen in Deutschland aber gerade die Schweißperlen auf die Stirn treibt (ein Beispiel ist die NRW-SPD), ist der Rechtsruck, der daraus resultiert. Er reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein und beginnt, sie von innen heraus aufzufressen. Ganz langsam passiert das, aber sehr beständig.
AfD ist zweitstärkste Kraft
Wie kann es bitte sein, dass die in weiten Teilen rechtsextremistische, faschistoide AfD bundesweit in den Umfragen mehr als 20 Prozent erreicht? Inzwischen ist ja nicht einmal mehr ausgeschlossen, dass sie in den nächsten Monaten die Unionsparteien als derzeit stärkste politische Kraft in Deutschland ablöst. Mit einem vorübergehenden „Protestverhalten“ der Bürgerinnen und Bürger ist das schon lange nicht mehr zu erklären. Hier verändern sich langfristige Grundüberzeugungen. Jeder zwölfte erwachsene Bürger, ergab jetzt die „Mitte-Studie“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, steht nicht mehr auf dem Boden der Demokratie.
Sechs Prozent der Befragten haben konsequent alle Tassen aus ihren Schränken geräumt und wünschen sich sogar einen Führer zurück. Man möchte gerne lachen – und muss doch weinen.
Nicht nur Armutsmigranten
Die Saat des Hasses geht auf. Wo Lösungen nicht einfach sind, sucht man sich einfach einen Schuldigen, ein Feindbild. Den Menschen vergeht die Lust zu differenzieren – zwischen sogenannten Armutsmigranten ohne Asylanspruch und politisch wirklich Verfolgten, zwischen voll integrierten Neubürgern, die einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel leisten, und Clankriminellen, die neben ihren schmutzigen Geschäften noch Bürgergeld kassieren. Die AfD mit ihrem ebenso simplen wie menschenverachtenden Weltbild kommt da gerade recht.
Dass Deutschland auf qualifizierte Zuwanderung sogar angewiesen ist, um wirtschaftlich zu überleben, wollen manche nicht hören. Andere verschließen derweil die Augen davor, dass derzeit die letzten Multikulti-Träume platzen und wir jetzt handeln müssen. Jetzt, bevor die Demokratie kippt. Wenn erst genug Anti-Demokraten Schlüsselpositionen errungen haben (mit den Landräten und Bürgermeistern fängt es an), ist es schnell zu spät.
Nicht-Willkommenskultur
Und nun, liebe Leserinnen und Leser, erwarten Sie vom Kolumnisten einen konkreten Lösungsvorschlag, richtig?! Den habe ich leider nicht. Eines aber wird mir immer klarer: Das Wir-schaffen-Das der damaligen Bundeskanzlerin, das, was wir „Willkommenskultur“ genannt haben in der Flüchtlingspolitik, können wir so nicht aufrechterhalten. Mir tut das persönlich weh, weil ich Angela Merkel für ihre damalige Haltung bewundert habe. Damals hat eine aufrechte Christdemokratin in einer schwierigen Situation das „C“ im Namen ihrer Partei in praktische Politik übersetzt, gegen alle Widerstände. Ich war stolz auf Deutschland.
Praktische, pragmatische Politik allerdings erfordert jetzt ein radikales Umdenken. Wir müssen, aus einem Akt der Notwehr heraus, Flüchtlingen sagen, dass sie nicht mehr grundsätzlich willkommen sind. Mehr noch: Wir müssen sie, dem Beispiel Dänemarks folgend, regelrecht abschrecken, ohne allerdings internationale Flüchtlingskonventionen zu missachten und ohne den Boden des Grundgesetzes zu verlassen.
Obergrenze ist purer Populismus
Letzterer Hinweis ist in diesen Tagen ja nicht so selbstverständlich, wenn Unionspolitiker plötzlich wieder von einer 200.000er Obergrenze sprechen, die im Ergebnis das individuelle Recht auf Asyl spätestens bei Flüchtling Nr. 200.001 abschafft. Das ist purer Populismus, der keine Lösung beinhaltet, ebenso wie der „Deutschland-Pakt“, den CDU und CSU nun dem Kanzler scheinbar anbieten. Würde Olaf Scholz ihn tatsächlich annehmen, triebe das die Grünen aus der Koalition und die Ampel wäre Geschichte. Ein durchsichtiges Manöver.
Andererseits liegt der Schlüssel für Veränderung tatsächlich bei den Grünen. Sie müssen politisch den weitetesten Weg zurücklegen, um bisherige Tabus zu brechen: Dazu gehören schärfere Abschieberegeln, feste Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien und die Kürzung von Sozialleistungen für Eingewanderte; die Kriterien zur Festlegung sicherer Herkunftsländer sind zu überprüfen und im Zweifel abzuschwächen; wir brauchen mehr Migrationsabkommen auch mit Staaten, in denen lupenreine Diktatoren regieren. All das schmerzt.
Immerhin: Die schwarz-grüne Landesregierung unterstützt die Einstufung von Georgien und Moldau als sichere Herkunftsstaaten, um Asylverfahren von Schutzsuchenden aus diesen Ländern schneller bearbeiten zu können. NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) will offenbar kein Veto mehr einlegen, da Georgien und Moldau als EU-Beitrittskandidaten mit weitgehenden Reformprozessen bei Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu betrachten seien.
Beispiel Dänemark
Die Dänen nehmen Flüchtlingen nach deren Ankunft Wertgegenstände weg, die sie bei sich tragen. Schön ist das nicht. Im Grunde handelt es sich eher um Verzweiflungstaten als um Lösungen. In der Summe aber entfalten diese eine psychologische Wirkung auf potenzielle Einwanderer. Es hält einen Teil von ihnen, hoffentlich, fern.
Schlussendlich brauchen wir schlauere und humanere Lösungen für die Menschen, die schon bei uns sind und bei uns bleiben. Große Sammelunterkünfte für Geflüchtete etwa funktionieren nicht. Was wir aber auch brauchen, sind mehr finanzielle Mittel – nicht in erster Linie zur Versorgung von Flüchtlingen, sondern um den sozialen Druck von den Bürgerinnen und Bürgern zu nehmen. Mehr bezahlbare Wohnungen, mehr Kita-Plätze, eine funktionierende Infrastruktur vor Ort: Das sind die besten Rezepte gegen Rechtsradikalismus. Die Schuldenbremse bremst vor allem die Demokratie aus.
78 Prozent gegen AfD
Wenn 22 Prozent AfD wählen würden, würden das 78 Prozent – Stand heute – nicht machen. Noch also sind wir mehr. Tun wir alles, dass es so bleibt. Wir schaffen das.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Auf bald.