Essen. Ja, es waren überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund. Mit Rassismus hat diese Feststellung aber nichts zu tun – im Gegenteil.
Zwei kleine Mädchen geben einen liebevoll bemalten Brief persönlich auf der Leitstelle der Essener Feuerwehr ab. Darin bedanken sie sich bei den Feuerwehrleuten dafür, „dass ihr der Stadt Essen immer helft“. Ich finde das berührend. Und ich finde es beschämend. Wie traurig ist es eigentlich, dass wir jenen Einsatzkräften ausdrücklich unsere Solidarität zeigen müssen, die in der Silvesternacht nicht bei ihren Familien und Freunden waren, die nicht feiern konnten, sondern die arbeiten mussten, um uns zu helfen, um unsere Sicherheit zu gewährleisten? Die Mädchen waren nicht die Einzigen, die sich bei der Feuerwehr gemeldet, die so etwas wie Fremdscham empfunden haben, weil ausgerechnet diese Helden des Alltags attackiert wurden von einem Mob ohne Anstand und Moral.
Wer aber gehört zu diesem Mob? Was sind das für Leute? Die Antwort muss ebenso differenziert ausfallen wie klar und deutlich. Es waren überwiegend junge Männer mit viel Alkohol und noch mehr Testosteron im Blut, und der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund war im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch – in Essen, in Bochum, in anderen Ruhrgebietsstädten und nicht zuletzt auch in Berlin-Neukölln, wo die Ausschreitungen kriegsähnliche Zustände erreichten. Das sind die übereinstimmenden Aussagen der Polizei vor Ort und auch der Deutschen Polizeigewerkschaft.
Das böse M-Wort
Migrationshintergrund! Dieses Wort in diesem Zusammenhang polarisiert, es triggert Rechte wie Linke und führt zu reflexhaften Reaktionen. Vereinfacht und zugespitzt ausgedrückt funktioniert das so: Die Rechten stellen alle Migranten unter Generalverdacht und formulieren ihre ebenso alten wie ekelhaften Ausländer-raus-Parolen in verschiedenen Varianten scheinbar gemäßigt neu. Und die Linken holen ohne Verzug die Rassismuskeule heraus, wenn man eine solche Krawallnacht zum Anlass nimmt, einmal mehr die Integrationsfrage zu stellen. Sie wollen lieber über ein Böllerverbot für alle reden. In der Schule würde man sagen: Thema verfehlt.
Wie weit sind wir bei der Integration wirklich, wie weit können wir noch kommen, und welche Schuld tragen die Migranten selbst für misslungene Integration? Gibt es vielleicht auch Personen und Personengruppen, die sich nicht integrieren lassen, weil sie sich nicht integrieren lassen wollen?
Blick nach Essen-Huttrop
Blick nach Essen-Huttrop, wo es besonders wild zugegangen ist. Der Friseur, der Lebensmittel-Händler, der Imbissbuden-Besitzer – sie alle haben ihn auch, diesen Migrationshintergrund. Aber sie sind integriert. Sie sind Geschäftsleute, tüchtige Bürger dieses Landes; sie sind in gewisser Weise deutscher als mancher Deutsche. „Wir sind nicht alle kriminell“, sagt einer unserem WAZ-Reporter vor Ort. „Wir haben hier unsere Läden. Und die kommen und machen innerhalb einer Stunde zwanzig Jahre Arbeit kaputt.“ Und dann fügt er noch hinzu, dass er sich ein stärkeres Eingreifen der Polizei gewünscht hätte.
Es sind neben Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan vor allem die Kinder ihrer schon lange in Deutschland integrierten Eltern, die wir in den Blick nehmen müssen. Es wäre zu einfach, ihnen nur zu attestieren, dass sie nicht alle Tassen im Schrank haben. Vielmehr handelt es sich um frustrierte junge Leute ohne gute Perspektive, aus den Ghettos unserer Großstädte herauszukommen.
Eskalation ist nicht „anlasslos“
Sie schaffen keine ausreichenden Bildungsabschlüsse und kommen nicht an gute Jobs und Wohnungen. Sie fühlen sich abgehängt, an den Rand gedrängt. In der Folge bringen sie der Mehrheitsgesellschaft, die für sie offenbar nicht viel übrig hat, nichts als Verachtung entgegen. So eine Silvesternacht ist dann ein willkommener Anlass, um Dampf abzulassen – gezielt gegen staatliche Akteure, doch gemeint sind wir alle. Der Kampf gegen die Einsatzkräfte schweißt zusammen; man vergewissert sich seiner Identität, denn das ist alles, was man hat, und brüstet sich dann in den sozialen Netzwerken damit: Seht her, Brüder, ich bin einer von uns, und zwar ein ganz Cooler ...
Nein, die kriminelle Eskalation ist in der Tat nicht „anlasslos“, wie es in einem Kommentar der „Zeit“ heißt. Aber auf der anderen Seite ist es inakzeptabel, jetzt aus den Tätern prompt wieder Opfer zu machen, die irgendwie gar nicht anders können, um sich zu wehren, um auf sich aufmerksam zu machen. Und wenn es in der „Zeit“ weiter heißt, dass Gewaltbereitschaft und Respektlosigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft auch keine „kulturellen“ oder gar „angeborenen“ Eigenschaften seien, dann ist das nur halb richtig. Angeboren ist das natürlich nicht. Aber in so mancher Migrantenfamilie, wo der Patriarch auch einmal zu handgreiflichen Erziehungsmethoden greift, gehören Gewalt und eine aus aufgeklärter Sicht toxische Männlichkeit leider zur Sozialisation.
Auch Rechtsextreme verachten den Staat
Wer das unter den Teppich kehren will, der leistet keinen Beitrag gegen Rassismus. Der befördert diesen eher. Sichtbare Probleme offen auszusprechen: Das ist die einzige wirksame Methode, rechtsextremen Hetzern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die unentwegt behaupten, man dürfe dieses und jenes nicht sagen. Dabei verbindet die Rechtsextremen mehr mit den von ihnen verhassten migrantischen Gewalttätern, als sie zugeben wollen: Denn beide Gruppen verachten den Staat und unsere Gesellschaft.
Was zu tun ist? Mehr Polizeibeamte, mehr Videotechnik, eine bessere personelle Ausstattung der Justiz; aber auch eine bessere Förderung und Finanzierung von Schulen, mehr Mittel für die Jugend- und Stadtteilarbeit sowie für andere Sozialdienste. In den Sonntagsreden hören wir all das schon lange ...
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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