Essen. Die überraschende Mehrwertsteuersenkung auf Gas hilft. Ob auch die blumigen Äußerungen von Evonik-Chef Kullmann helfen, ist aber Geschmackssache.

Wenn man als Autor einer politischen Kolumne, die sich mit der Arbeit einer Regierung beschäftigt, über den ersten Satz nachdenkt, dann hat man meist zwei Möglichkeiten: Entweder man ist auf viel Beifall des Leserinnen und Leser aus, dann sollte man möglichst kritisch einsteigen. Begriffe wie „Kommunikationschaos“ kommen dann gut; ich könnte ein „ewiges Hin und Her“ beklagen und „mehr klare Führung durch den Kanzler“ einfordern. Letzteres trifft es in diesen Tagen ja fast immer. Oder ich schwimme bewusst gegen den Strom und lobe die Regierung ausdrücklich, was mir zunächst jede Menge Aufmerksamkeit bringen würde. „Mutige Entscheidung“ oder „entschiedener Kurswechsel“ wären dann so typische Formulierungen.

Blöderweise bin ich aber kein Fan des immer mehr um sich greifenden Schwarz-Weiß-Denkens, und wenn es um meine Meinung geht, die ich Ihnen hier anbieten möchte, dann bin ich konservativ: Authentisch muss es vor allem sein. Meine ehrliche Meinung also zu der überraschend verkündeten, befristeten Mehrwertsteuersenkung auf Gas ist: Ich finde sie richtig und gut, der Schritt ist angemessen. Er kommt aber leider ziemlich spät und birgt, wie immer, das Risiko, dass die Unternehmen die Steuersenkung nicht voll an die Gaskunden weitergeben. Entsprechend schlechte Erfahrungen haben wir alle gerade an den Zapfsäulen machen müssen. Mein Vertrauen ist hier derzeit, nun ja, unterausgeprägt.

Mehrwertsteuer sinkt von 19 auf 7 Prozent

Der Reihe nach: Die Bundesregierung will für einen befristeten Zeitraum einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz auf Erdgas verlangen, und zwar 7 statt 19 Prozent. Die so gesenkte Mehrwertsteuer soll auf den Gasverbrauch fällig werden, nicht nur auf die Gasumlage. Spannend dabei ist, dass mit dem Schritt die Gaskunden insgesamt deutlich stärker entlastet werden sollen, als sie durch die staatliche Gasumlage belastet würden. Da fragt man sich spontan, warum die Regierung überhaupt eine Gasumlage eingeführt hat, statt die Unternehmen direkt mit Staatsgeld zu stützen. Das wäre schon deshalb augenscheinlich gerechter gewesen, weil es alle Steuerzahler belastet hätte und nicht nur die Gaskunden. Schließlich geht die drohende Gasmangellage alle Bürgerinnen und Bürger an, auch die, die zum Beispiel mit Öl heizen oder stolze Besitzer von Wärmepumpen sind.

Obwohl ich als Gaskunde selbst betroffen bin, finde ich die Gasumlage dennoch richtig. Wer viel Energie spart, weil er die Heizung etwas herunterdreht oder nicht ganz so lange und ganz so heiß duscht, der soll auch weniger finanziell belastet werden. Dieser finanzielle Anreiz, Gas zu sparen, vergrößert die Chancen, dass wir alle – und dazu gehört auch unsere Industrie – gut durch den Winter kommen. Und daran ändert auch die Mehrwertsteuersenkung nichts. Gas zu sparen, bleibt lohnend, und wer wenig Geld hat, der muss zumindest nicht der Gasumlage wegen frieren, denn die wird nun mehr als ausgeglichen. Das erscheint mit erst einmal fair – von dem klitzekleinen Haken abgesehen, dass man schon mal gerne wüsste, was das den Staat (also uns) eigentlich kostet und wer das eines Tages bezahlen soll.

Bundesregierung folgt dem Vorschlag Brüssels

Was mich zudem stört, ist das Überraschungsmoment. Hätte man mit der frühzeitigen Ankündigung einer Mehrwertsteuersenkung gerade jenen Menschen, die chronisch knapp bei Kasse sind und die Gasumlage darum besonders fürchteten, nicht manche Ängste ersparen können? Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Bundesregierung wollte eigentlich den Weg gehen, dass auf die Gasumlage überhaupt keine Mehrwertsteuer fällig wird. Dem erteilte Brüssel jedoch mit Verweis auf geltendes europäisches Recht eine Absage, machte aber unter anderem den Vorschlag, die Mehrwertsteuer auf Gas insgesamt zu senken, so wie jetzt geschehen.

Zahlen müssen die Gasumlage übrigens nicht nur Privatleute, sondern auch die Unternehmen, mithin jene Industrie, die es vor einer Gasmangellage zu schützen gilt. Einer der prominentesten Vertreter dieser Industrie ist Christian Kullmann, der Vorstandsvorsitzende von Evonik, dem großen Chemiekonzern mit Sitz in Essen. Kullmann ist im Nebenjob auch Präsident des Verbands der Chemischen Industrie und, wie sich immer wieder zeigt, ein gewitzter Rhetoriker. Am Montag noch bot er einem Millionenpublikum bei Frank Plasbergs „Hart, aber fair“ einige Kostproben dieses Talents an, die manchem geschmeckt haben dürften und manchem nicht.

Kullmann: „Keine Zeit für Wasserballett“

„Alle werden lernen müssen, in diesem Winter zu verzichten“, sagte Kullmann etwa und fügte blumig hinzu: „Jetzt ist keine Zeit für Wasserballett, jetzt ist Zeit für Brustschwimmen, und da muss der Kopf über Wasser gehalten werden.“ Vor einigen Woche hatte der Evonik-Boss schon für Schlagzeilen gesorgt, als er in einem Interview den Vorrang der Verbraucher bei der Gasversorgung vor der Industrie in Zweifel gezogen hatte. „Was nützt es, wenn die Haushalte zwar weiter Gas bekämen, es aber nicht mehr bezahlen könnten“ – eben weil die Leute ihren Job verloren hätten?

Auch hier gibt es wieder mehrere Möglichkeiten, solche Aussagen einzuordnen. Spontan werden viele sagen, der Millionär Kullmann habe wohl nicht alle Tassen im Schrank, andere zum Verzicht aufzufordern.

Zu Plasberg setzen und schlau daherreden?

Tatsächlich profitiert Evonik aktuell von Preiserhöhungen für chemische Produkte, wie unsere WAZ-Wirtschaftsredaktion erst vor einer Woche berichtete. In den Monaten April bis Juni sei der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 Prozent auf 4,77 Milliarden Euro gestiegen. Das bereinigte Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (bereinigtes Ebitda) habe sich um zwölf Prozent auf 728 Millionen Euro erhöht. Zudem ist Evonik eigenen Angaben zufolge inzwischen „deutlich unabhängiger von Erdgas“. Da kann man sich gemütlich zu Plasberg setzen und schlau daherreden.

Ich als erklärter Klartext-Freund finde es dagegen klasse, wenn ein Industrie-Boss ruhrgebietstypisch klare Kante zeigt und es ihm dabei sichtlich egal ist, wen er damit erfreut oder verärgert. Er stellte sich nämlich auch einmal mehr ganz klar hinter die Gasumlage und bekannte sich somit ausdrücklich zur solidarischen Verantwortung der Unternehmen, diese mitzutragen. Drei Milliarden Euro koste das die chemische Industrie in Deutschland, rechnete er vor. Das sei der Gegenwert einer zehnprozentigen Lohn- und Gehaltserhöhung der eigenen Belegschaft und somit „wie eine Flasche Lebertran, die wir auf ex trinken, aber wir stehen dazu“. Bravo!

Preiserhöhungen sind für viele bedrohlich

Früher wurde Lebertran aus bis zur Fäulnis lagernden Fischlebern gewonnen. Kinder mussten bis in die 60er Jahre täglich einen Löffel davon schlucken. Das ist extrem ekelhaft – aber freilich nichts gegen die Sorgen mancher Menschen, die aufgrund der Preiserhöhungen auf breiter Front kaum noch wissen, wie sie den Kopf über Wasser halten sollen. Die Stadtwerke Essen etwa erhöhen den Gaspreis um satte 127 Prozent. Die Mehrwertsteuersenkung mag beim Brustschwimmen helfen, kann aber nur ein Teil der Lösung sein.

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.

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