Witten. Witten gibt über 30 Millionen Euro im Jahr für Erziehungshilfen aus. Das liegt vor allem an komplizierten Einzelfällen. Ein besonderes Beispiel.

Die Kosten im Wittener Jugendamt explodieren seit Jahren. Waren es 2018 noch 15,5 Millionen Euro, die die Stadt für Erziehungshilfen wie die Unterbringung in Pflegefamilien und Heimen ausgegeben hat, sind es jetzt schon über 30 Millionen.

Nun bekommt das Amt für das laufende Jahr noch zusätzliche 4,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Gründe sind vielfältig. Im Fokus stehen besonders kostspielige Einzelfälle, die sogenannten „Systemsprenger“. Wie kompliziert, aber auch teuer der Umgang mit solchen Problem-Jugendlichen ist, macht ein anonymisiertes Fallbeispiel deutlich.

Vorgestellt wurde das betroffen machende Schicksal einer weiblichen Jugendlichen aus Witten im letzten Jugendhilfeausschuss. Der Fall verdeutliche „die generelle Entwicklung, die wir erleben“, sagte Lisa Gayk, Leiterin der Erzieherischen Hilfen. „Wir haben es immer öfter mit hochkomplexen Fällen zu tun, bei denen sich mehrere Probleme überlagern und verstärken.“

Jedes Kind, jeder Jugendliche in Witten bringt sein „Päckchen“ mit

Denn jedes Kind oder jeder Jugendliche bringt ein individuelles „Päckchen“ mit - in diesem Fall sind das die Nachwirkungen mütterlichen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft und ein verminderter IQ. Hinzu kommen strukturelle Probleme: fehlende Plätze etwa in Wohngruppen, aber etwa auch Platzmangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

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Als Systemsprenger werden solche Jugendlichen bezeichnet, die mit den sonst üblichen Angeboten und Hilfemaßnahmen des Jugendamtes nicht mehr zu erreichen sind. Oft sind sie eine Gefährdung für sich und andere, können deshalb nicht einfach in Wohngruppen untergebracht werden oder fliegen aus diesen raus. Nur wenige Einrichtungen in ganz Deutschland sind auf solche Jugendlichen spezialisiert, die Plätze begehrt.

Jugendamt begleitet Systemsprengerin seit dem dritten Lebensjahr

Das hat auch die junge Frau aus Witten erlebt, nennen wir sie Nadine. Seitdem sie drei Jahre alt war, hat das Jugendamt sie und ihre Familie auf dem Schirm. Es begann mit einer „einfachen“ Überforderung der Mutter mit ihren insgesamt drei Kindern und Unterstützungsangeboten im elterlichen Haushalt. Mit einem neuen Partner der Mutter kam es in den Folgejahren zu häuslicher Gewalt. Die Kinder wurden weiter vernachlässigt, litten unter anderem auch an einem hartnäckigen Krätzebefall.

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Das Jugendamt brachte Kinder und Mutter schließlich zusammen in einer betreuten Einrichtung unter. Überforderte Eltern trainieren dort den Alltag mit Kind, etwa wie man es richtig ernährt und beschäftigt. Doch auch in dieser neuen Situation kümmerte sich die Mutter nicht ausreichend. Mit sieben Jahren kam Nadine schließlich in eine Pflegefamilie.

Aus der Pflegefamilie weggelaufen

Von dort aber lief sie immer wieder weg. Auch in den Folgejahren ist die mittlerweile 16-Jährige in keiner Pflegefamilie oder Einrichtung angekommen. Mehrfach musste sie als Notfall in die Psychiatrie. Denn sie gefährdet regelmäßig sich selbst, läuft vor die Bahn oder ein Auto, isst Stöcke oder unternimmt Selbstmordversuche. Gleichzeitig ist Nadine gewalttätig gegenüber anderen und hat psychotische Schübe. Eigentlich sollte sie laut Empfehlung schon seit mehr als einem Jahr in einer geschlossenen Einrichtung sein, geistig ist sie auf dem Entwicklungstand einer höchstens Dreijährigen. Aber die Stadt hat bislang keinen Platz für die Jugendliche gefunden.

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„Für die Kollegen ist es ein Akt auf dem Drahtseil“, so Jugendamtsleiterin Corinna Lenhardt. Denn das Amt ist in der Verantwortung und muss das Kind unterbringen. Egal, wie schwierig das ist oder was es kostet. Nadine lebt derzeit in einer Wohngruppe, mit einer 2:1-Betreuung am Tag (zwei Betreuende für eine Jugendliche) und einer 1:1-Betreuung in der Nacht. 24 Stunden ist zudem ein Sicherheitsdienst vor Ort. Doch auch das wird nicht auf Dauer gutgehen. Also plant die Stadt derzeit, wie sie die Jugendliche alleine unterbringen kann - natürlich mit einer ähnlich intensiven Betreuung wie aktuell. Geschätzte Kosten pro Jahr: etwas über eine Millionen Euro.

Und Nadine ist nicht die einzige Jugendliche, die das Jugendamt so intensiv betreuen muss.

Mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Auch gestiegene Kosten für externe Träger lasten auf dem Jugendamt. So haben laut Stadt viele Einrichtungen ihre Entgelte erhöht, auch die Inflation tut ihr übriges.

Gleichzeitig werden der Stadt immer mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zugewiesen. Aktuellen Hochrechnungen zufolge sollen hier Mehrkosten in Höhe von 2,3 Mio Euro auf die Stadtkasse zukommen.

Auch benötigen immer mehr Kinder einen Inklusionshelfer im Schulalltag. Die Stadt hat darauf reagiert und testet seit Anfang des Jahres an vier Schulen ein neues System: Ein Pool an Integrationshelfern steht dort bereit und kümmert sich nach Bedarf um mehrere Kinder. Bislang hatte jedes Kind einen eigenen Begleiter.

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