Witten. Trotz Verlusten und Zwangsarbeit: Lina Weiss zeigt an ihrem 100. Geburtstag in Witten, dass Aufgeben keine Option ist. Das ist ihre Geschichte.

Früh verwaist, Zwangsarbeit in Kasachstan, lange heimatlos, aber niemals aufgegeben: Lina Weiss feierte am vergangenen Samstag ihren 100. Geburtstag in Witten. Bis dahin war es für die im Ural geborene Russlanddeutsche ein weiter Weg. Tochter Lilija Plate (65) blickt auf das bewegte Leben ihrer Mutter zurück. Auf die Geschichte einer starken Frau, die selbst die schlimmsten Schicksalsschläge nicht aus der Bahn geworfen haben.

Mit 30 Verwandten und Bekannten hat Lina Weiss ihr rundes Jubiläum in einer Wittener Gaststätte gefeiert. Mit dabei: ihre zwei Töchter, fünf Enkelkinder und weitere fünf Urenkel. Es fehlte nur ihr Sohn Rudolf, der bereits vor zwölf Jahren im Alter von 55 Jahren verstorben ist. Dabei scheint der Tod im langen Leben der 100-Jährigen ein stetiger Begleiter gewesen zu sein.

Vor 100 Jahren in einem deutschen Dorf im Ural geboren, hat sie bereits im Alter von elf Jahren ihre Mutter nach langer Krankheit verloren. Gestorben ist sie wohl an Darmkrebs, schätzt Linas Tochter Lilija. „Als mein Großvater sie mit dem Pferdewagen zum Arzt gebracht hat, war es schon zu spät“, sagt sie.

Aus der eigenen Heimat vertrieben

Zwei Jahre später wurde Linas Vater in der Ukraine von einem Zug erfasst und verstarb ebenfalls. Dann, nach vier weiteren Jahren, begann der Zweite Weltkrieg. Da war Lina gerade erst 17 Jahre alt. Weil die damalige Sowjetregierung befürchtete, dass sich Russlanddeutsche mit den Nationalsozialisten verbünden könnten, sei sie vertrieben worden. Für die junge Lina bedeutete das den Weg in ein kasachisches Arbeitslager.

Von dort ging es mit Umwegen durch mehrere Sowjetstaaten, inklusive der DDR, nach Turkmenistan, wo sie im Jahr 1948 ihren späteren Ehemann Ewald kennenlernte. Mit der Zeit wurde aus dem Paar eine fünfköpfige Familie mit den drei Kindern Olga, Rudolf und Lilija. Die ersten zwei Kinder von Lina Weiss, zwei Töchter, waren jedoch früh verstorben. „Das hat meiner Mutter das Herz aus der Brust gerissen“, so die 65-Jährige. Aber Aufgeben sei für sie keine Option gewesen. „Das Leben muss weitergehen“: Das ist das Motto der heute 100-Jährigen.

Über Umwege nach Witten, die grüne Stadt an der Ruhr

Zwischenzeitlich ging es für die Familie wieder nach Russland, doch dort fühlte man sich nicht mehr wohl. Das Band zwischen den Russlanddeutschen und den Einheimischen war zerschnitten. „Für manche waren wir Faschisten, weil wir eben deutsch waren“, erinnert sich Lilija. Seit dem Jahr 1956 habe man um die Aussiedlung nach Deutschland gekämpft. 16 Jahre später wurde der Traum dann Wirklichkeit. Über eine Familienzusammenführung - Ewalds Tante wohnte in Dortmund - klappte es endlich. Doch zunächst ging es in ein Durchgangslager in Unna.

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Dort wurde der Vater, ein gelernter Maurer, schließlich von einem Mitarbeiter der Stadt Witten und einer Bauunternehmerin angeworben. Der Deal: Er sollte mit seiner Familie in die Ruhrstadt ziehen und dafür eine Anstellung erhalten. Zunächst herrschte Skepsis. „Wo liegt Witten? Was ist da? Haben wir uns gefragt“, erinnert sich Lilija. Den Ausschlag gab dann das Urteil von Verwandten: „Witten liegt ganz in der Nähe von Dortmund. Könnt ihr ruhig machen.“ Und so sei die Familie hier gelandet - und es habe ihnen auf Anhieb gefallen. Die 65-Jährige erinnert sich noch an die Broschüre, die der städtische Mitarbeiter der Familie damals überreichte: „Witten, die grüne Stadt an der Ruhr.“

Wirbel gebrochen: Ins Heim geht sie trotzdem nicht

Während Ewald Weiss von da an in der grünen Stadt Mauern hochzog, ging Mutter Lina putzen. „Sie hatte keine Ausbildung, hat aber immer schwer gearbeitet“, so ihre Tochter. Auch handwerklich sei ihre Mutter durchaus begabt. Die Fliesen im eigenen Heim habe sie eigenhändig verlegt. Ihrem Mann Ewald traute sie so filigrane Arbeiten nicht zu. Er war als Maurer fürs Grobe zuständig. Im Jahr 2001 verstarb auch er.

Bis vor sieben Jahren lebte Lina Weiss noch im eigenen Haus mit einem großen Garten, den sie noch selbst bewirtschaftet hat. Dann erlitt sie einen Wirbelbruch, und es sei klar gewesen, dass sich etwas ändern müsse, erinnert sich Tochter Lilija.

Doch statt ins Seniorenheim zu gehen und sich umsorgen zu lassen, zog Weiß in eine freie Wohnung im Haus ihrer Tochter Olga (71) ein. Vieles macht sie noch selbst, lässt sich aber auch von ihren Töchtern im Haushalt helfen. Sie hat einen festen Tagesablauf. Schon direkt nach dem Aufwachen vollführt sie im Bett Bewegungsübungen, um den Körper in Schwung zu halten. Lilija: „Meine Mutter ist eine richtige Kämpfernatur.“

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