Witten. Sonne, Sand und Meer – Sommerferien! Während viele Wittener jetzt am Strand liegen, bleibt Urlaub für andere ein ferner Traum. Drei Betroffene.
Günter (81) hat das Meer bestimmt schon 20 Jahre nicht mehr gesehen. Während andere Wittener vielleicht gerade auf Mallorca zum Strand bummeln, gönnt sich der ehemalige Werkzeugmacher noch einen Kaffee bei der Tafel. Auf seinem Teller liegt ein Brötchen mit Mortadella. Zwei andere Männer und eine Frau sitzen mit ihm an diesem Morgen im Frühstücksraum. Urlaub? „Kann ich mir nicht erlauben“, sagt der Rentner.
Nicken an den Nachbartischen. Sie leben fast alle an der Armutsgrenze und können sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt weggefahren sind. Nichts mit Grömitz, Malle oder Garmisch. Ihr einziges Ziel mitten in den Sommerferien ist an diesem Vormittag der schlichte Altbau an der Herbeder Straße 22.
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Doch keiner von ihnen jammert, weil für sie Norwegen oder Norderney in unerreichbarer Ferne liegt. Sie nehmen es hin, so wie sie ihr Schicksal akzeptieren, wenig Geld zu haben und am Rande der Gesellschaft zu leben. Es ist keine kleine Gruppe in Witten, der es so geht. Mehr als 9000 Menschen bekommen Bürgergeld, was früher besser bekannt war als Hartz IV. Von 1080 Euro im Monat müsse er sämtliche Kosten begleichen, sagt Günter, der zusätzlich Wohngeld bezieht. Mal angenommen, er hätte einen (Urlaubs-) Wunsch frei, wo würde er dann hinfahren? „Irgendwo anne See.“
Nebenan sitzt Olaf (55), lange graue Haare, Motorradfahrer – und berufstätig. Er schraubt an Autos und Motorrädern, doch für einen richtigen Urlaub „reicht es „eigentlich nicht“. Er bekomme zwölf Euro Mindestlohn und komme auf ungefähr 900 Euro im Monat. „Davon muss ich alles zahlen.“ Wann er zuletzt verreist sei? Der Mittfünfziger lacht. „Vor zehn Jahren.“
„Ich habe alles gesehen, so wichtig ist mir das nicht mehr“
Früher, da war er viel unterwegs, 20 Jahre lang, in „England, Frankreich, was weiß ich“. Der gelernte Schlosser arbeitete als Tontechniker, in Deutschland zog er fünf Jahre mit einem Zirkus rum. „Ich habe alles gesehen, so wichtig ist mir das nicht mehr.“ Vielleicht noch mal ein paar Freunde besuchen, mit dem Motorrad, das würde er aber schon gern.
Die Stimmung im Frühstücksraum ist locker, man kennt sich. Es ist nicht allein das knappe Geld, das sie hertreibt, sondern auch die Begegnung mit den anderen. In Gesellschaft zu frühstücken, das macht eben mehr Spaß. Deshalb ist auch Franz-Josef hier, der sich ein paar Tage Urlaub durchaus leisten könnte, wie er selbst sagt. „Ich bin ganz gerne unterwegs.“ Er würde gern einmal in den Osten reisen, nach Thüringen oder Dresden, „ins Elbflorenz“.
Der frühere Gärtner bezieht eine Rente, „die etwas über der Grundsicherung liegt“. Große Sprünge kann er damit aber auch nicht machen. Nun besucht der 70-Jährige für ein paar Tage seine Schwester am Bodensee. „Wir wollen zur Insel Mainau.“ Die Kosten halten sich in Grenzen. „200, 250 Euro“, schätzt er.
Der andere Olaf (52), den wir an diesem Morgen bei der Tafel treffen, frühstückt draußen – schon des Hundes wegen. Zu seinen Füßen liegt Skyla, eine kräftige Hündin mit Maulkorb, „die nicht so gerne Fremde mag“. Skyla passt gut zu dem braun gebrannten Mann mit den Muckis und der großen Tätowierung am Arm, den man schnell in die Klischee-Schublade packen könnte, der aber sehr nett ist.
Olaf trinkt noch einen Kaffee und erzählt, warum er regelmäßig bei der der Tafel frühstückt und sich dort auch dreimal in der Woche sein Mittagessen holt, „ein Mikrowellengericht oder einen Eintopf in der Dose“. 25 Jahre hat er gut im Außendienst einer Versicherung verdient, konnte sich einiges leisten und Urlaub sowieso. Dann warf ihn sein Burnout aus der Bahn, seit 2016 ist er arbeitslos. Nach seiner Erkrankung hat er noch was mit Marmor versucht, wollte 20-Tonnen-Blöcke verkaufen, fuhr deshalb in die Türkei, „alles war schon eingestielt“, und „dann kam der Lockdown“. Nun verdient er sich als Sargträger noch was zu den 502 Euro Bürgergeld dazu. „Es dürfen 160 Euro mehr sein, davon bleiben 75 Euro“ – für 15 Stunden im Monat.
Olaf (52) aus Witten: „Es müssen ja nicht die Bahamas sein“
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Denkt er noch oft an früher, an das „normale“ Leben mit regelmäßigen Reisen? „Natürlich fehlt das“, sagt Olaf. „Aber es müssen ja nicht die Bahamas sein. Schön finde ich Edinburgh. Von mir aus auch was mit Zelt, zwei Wochen an der See.“ Egmond, Bergen aan Zee, Dornumersiel – Olaf kennt ja noch viel von früher, als die Zeiten besser waren. Doch auch Zelten sei schon schwierig, „Das kostet ja auch 10, 15 Euro am Tag. Und man muss sich dann ja auch dort verpflegen. Und vielleicht gibt’s keine Tafel, wo ich essen kann.“
Auch ihn fragen wir zum Schluss, wo er gern hinfahren würde, wenn er es sich wünschen könnte. „Nordseeküste“, sagt Olaf. „Am liebsten eine Ferienwohnung, wo Tierhaltung erlaubt ist.“ Dagegen hätte bestimmt auch Skyla, seine Hündin, nichts einzuwenden. Vorerst begleitet sie ihr Herrchen weiterhin treu zur Wittener Tafel. Heven statt Holland. Dafür aber mit Frühstück.
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