Witten. Eine Dragqueen gibt am Schillergymnasium in Witten tiefe Einblicke in ihr Leben. Sie will Schüler für Toleranz und Vielfalt sensibilisieren.
Bunt, schrill und ganz schön laut – dieses Bild einer Dragqueen mag Veuve Noire (deutsch: Schwarze Witwe) bei ihrem Besuch am Schillergymnasium in Witten nicht so ganz erfüllen. Das Outfit der 38-Jährigen ist mit enger schwarzer Hose und goldenem Glitzeroberteil fast schon dezent, statt einer auffallenden Perücke trägt sie blonde Dreadlocks. So oder so steht an diesem Tag ein Mann – aus biologischer Sicht – in Frauenkleidung und mit perfekt sitzendem Make-up vor den Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe sieben. Vielfalt, Toleranz und Respekt stehen auf dem Stundenplan.
Und wer könnte diese Themen besser an die Kinder herantragen als ein Mensch, der selbst in seinem Leben sehr viel Ausgrenzung, Mobbing und auch Gewalt erlebt hat? Veuve Noire lebt mittlerweile in Hamburg und gehört zum Universum der deutschen Drag-Ikone Olivia Jones. Sie ist Familienbotschafterin der Gemeinschaft und tourt seit 2019 regelmäßig durch Kitas und Schulen der Republik.
Heterosexuelle Frau im Körper eines schwulen Mannes
Eine heterosexuelle Frau im Körper eines schwulen Mannes – so bezeichnet sich Veuve Noire selbst. „Da ich aber an meinem Körper nichts verändern möchte, mache ich das Beste draus“, grinst Veuve, die sich ihren zweiten Namen auch als offiziellen Künstlernamen in den Ausweis hat eintragen lassen.
Drag, das steht für „Dressed as a girl“, zu deutsch „als Mädchen angezogen“. Für Veuve Noire ist das Schlüpfen in Frauenkleider aber mehr als eine Kunstform: „Das bin einfach ich. Ich kehre mein Inneres nach außen.“ Und das tut sie auch vor den unzähligen 12-Jährigen, die in der Aula des Schillergymnasiums sitzen. Sie erzählt von ihrer Jugend in einem norddeutschen Dorf, von der Angst zur Schule zu gehen, weil sie dort regelmäßig verprügelt wurde, davon, wie sie – damals noch Henrik – im fortgeschrittenen Teenageralter von der angeblich besten Freundin als homosexuell geoutet wurde. Woraufhin sich alle bisherigen Freunde von ihr abwandten.
Von allen Freunden verlassen
„Ich habe das nicht verstanden. Es hatte sich ja nichts geändert, aber ich war plötzlich ganz allein“, erzählt Veuve. „Ich war halt so, daran konnte ich ja nichts ändern.“ Genau das ist auch eine der Hauptbotschaften, die die Dragqueen mit nach Witten gebracht hat: Sexualität und sexuelle Orientierung haben viele Spielarten – und sie alle sind völlig normal und natürlich.
„Alle Kombinationen hat es schon immer gegeben und waren auch immer Bestandteil der Natur“, sagt Veuve. Jeder solle sein Leben ganz individuell leben und sich selbst ausdrücken können. Bei ihren Besuchen in Schulen gehe es auch darum, den Kindern und Jugendlichen diese Vielfalt bewusst zu machen. Denn es gibt eben nicht nur Mädchen, die auf Jungs stehen, und umgekehrt. Und nicht jeder, der im Körper eines Mannes geboren wird, fühlt sich selbst auch als ein solcher.
Besuch im letzten Jahr hat Stimmung in der Klasse verändert
Die queere Familienbotschafterin war bereits zum zweiten Mal am Schillergymnasium zu Besuch. Im vergangenen Jahr lauschten die Sechstklässler den Erzählungen der Wahl-Hamburgerin. „Es gab damals in einer Klasse einige Konflikte“, erzählt Lehrerin Sandra Biermann, die die Idee zu der ungewöhnlichen – aber freiwilligen – Unterrichtsstunde hatte. Vorbereitend habe man dann über Ausgrenzung und Mobbing gesprochen. Das Klima in der Klasse habe sich nach dem Vortrag verbessert. „Und auch im Anschluss arbeiten wir ja weiter. Wichtig ist uns, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu geben, dass da jemand ist, dem sie sich anvertrauen können.“
Auch deshalb würde Biermann den Besuch von Veuve Noire an der Schule gerne etablieren. „Wir sind ja offiziell ‘Schule ohne Rassismus’, das wollen wir mit Leben füllen.“ Wie nötig das ist, zeigt sich auch an diesem Tag. Die Bandbreite der Reaktionen auf die Dragqueen ist enorm. Einige Jungs kichern erst, stellen mal mehr mal weniger ernst gemeinte Fragen, lassen sich dann aber von der Videospiel-Erfahrung der Gamerin beeindrucken. Ein paar Oberstufenschülerinnen, die sich an die Veranstaltung angehängt haben, würden am liebsten direkt eine Kiezführung durch St. Pauli bei Veuve buchen, das zweite Standbein der 38-Jährigen. Später stellen sich die Mädchen noch zum Selfie mit dem Gast auf.
Und dann gibt es noch die beiden Jungs, die gar nicht zur siebten Jahrgangsstufe gehören, sich ganz am Ende in die Aula schleichen und versuchen, andere Schüler mit abfälligen Bemerkungen über die Rednerin aufzustacheln. Eine solche Ablehnung ist Veuve Noire nicht unbekannt. „Das Elternhaus und der Religionshintergrund spielen da oft eine Rolle. Aber im Herzen sind sie alle gut.“