Velbert. Früher war Sport Alicas Leben, jetzt hat die Physiotherapeutin Pflegegrad 4. Die junge Frau spricht über ihre schwere Erkrankung und ihr neues Leben.
Alica ist Physiotherapeutin und Kursleiterin. Sport ist ihr Leben, egal ob an Land oder zu Wasser – beim Tauchen beispielsweise. Es gibt es keinen Tag ohne Bewegung. Auch mit ihrer Mischlingshündin Josie ist sie viel in der Natur unterwegs. Neben dem Sport trifft die Velberterin Freunde, näht gerne, bastelt, schreibt oder malt und schaut Filme. So zumindest war es bis vor knapp zwei Jahren.
Doch dann ändert sich ihr Leben schlagartig. Die heute 37-Jährige trifft eine Coronaerkrankung schwer. „Ich habe fast drei Monate gebraucht, um mich davon zu erholen“, erinnert Alica sich. Nach den drei Monaten möchte sie wieder beginnen, zu trainieren, will wieder fit werden. Das war im Mai 2023. „Mir ging es zu dem Zeitpunkt gut. Ich hatte lediglich eine Nasennebenhöhlenentzündung, die nicht weggehen wollte, war etwas müder als sonst, aber ansonsten war ich wieder einigermaßen fit.“ Und so beginnt sie mit drei leichten Pilates-Übungen. „Nichts Schweres“, erinnert sie sich. „Aber mein Körper reagierte mit einer Zustandsverschlechterung. Ich wurde immer unfitter und erschöpfter“.
Aus der Velberter Physiotherapeutin wird ein Pflegefall
Obwohl Alica alles versucht, um ihre Belastbarkeit wieder zu erhöhen, „ging es nur weiter in den Keller – und das plötzlich auch in riesigen Schritten“. Die junge Frau zählt auf: „Ich konnte auf einmal nicht mehr laufen, habe kein Essen mehr vertragen, hatte Schmerzen und Fieber. Ich konnte Licht und Geräusche nicht mehr ertragen, dazu kamen neurologische Symptome wie Brennen, Nervenzuckungen, Tremor.“ Alica stockt: „Bei 33 Symptomen gleichzeitig habe ich aufgehört, zu zählen“.
Lesen Sie mehr bewegende Schicksale aus Velbert und Heiligenhaus
- Nach Wohnungsbrand: Raj Kesavan hilft Heiligenhauserin in Not
- „Nicht endender Alptraum“: Heiligenhauser stirbt vor Hochzeit
- „Kleines Wunder“: Velberter Leon (4) kämpft sich ins Leben
- Leni möchte leben: Extremes Frühchen kämpft wie Löwenbaby
Aus der fitten Frau wird auf einmal ein Mensch, der auf Hilfe anderer angewiesen ist. „Jeder Tag war wie ein Migräne-Anfall am ganzen Körper“, fasst sie ihren Zustand zusammen. „Im Krankenhaus wurde ich dann falsch behandelt und ich fiel ins Delirium. War nicht mehr ansprechbar und vollkommen orientierungslos“. Mit Medikamenten wurde es langsam minimal besser – und Alica und ihre Familie wissen nun: Sie leidet an ME/CFS, vermutlich ausgelöst durch die Corona-Infektion. Alica erklärt: „Betroffene leiden neben einer schweren Fatigue, also krankhafter Müdigkeit und Erschöpftheit, die das Aktivitätsniveau erheblich einschränkt, unter neurokognitiven, autonomen und immunologischen Symptomen“. Charakteristisch für die Krankheit sei eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Sie führt zu ausgeprägter Schwäche, starken Muskelschmerzen, grippalen Symptomen, Kreislaufbeschwerden, neurologischen Symptomen und der Verschlechterung des allgemeinen Zustands.
Heilbar ist die Krankheit noch nicht, auch einen einheitlichen Therapieansatz gibt es bislang nicht. Und so ist es für die Ärzte auch schwierig, ihrer Patientin zu helfen. Zwar wurde der Zustand von Alica mit Medikamenten ein bisschen besser, aber „ich konnte nicht mehr sitzen, nicht mal den Kopf anheben, mich nicht mehr selber im Bett umdrehen, nicht reden und ich war 24/7 allein im Dunkeln – mit Kopfhörern, um Geräusche abzuschirmen“. Alica holt Luft und sagt dann leise: „Mit 35 bettlägerig, Pflegegrad vier. So hab ich mir das nicht vorgestellt“.
Alica gibt die Hoffnung nicht auf und kämpft sich ins Leben zurück
Aufgeben kommt für Alica aber nicht infrage, sie gibt die Hoffnung nicht auf. „Als Physiotherapeutin habe ich gelernt, dass der Körper sich Belastungen anpasst. Das ist unsere grundlegendste physiologische Eigenschaft. Diese Erkrankung war so wenig erforscht, das wollte ich mir nicht abschwatzen lassen.“
Nachdem ihre Mutter vorwiegend schlechte Nachrichten im Internet findet, bittet Alica: „Bitte schau nach den Dingen, die Menschen gesund gemacht haben.“ Doch Genesenenberichte gab es von niemanden, der so schlimm wie Alicia betroffen war. „Daher haben wir uns dazu entschieden, meinen Genesungsverlauf auf Instagram zu dokumentieren.“
Für diesen Weg benötigt Alica viel Geduld. „Ich habe mich dann entschlossen, meine Belastungen anzupassen. Das bedeutete für mich, dass ich mich einmal am Tag nach vorne auf den Bauch fallen gelassen habe. Für mehr reichte die Kraft nicht.“ Aus der halben Rolle wurde dann irgendwann eine ganze Rolle, aus einmal am Tag, dreimal, dann fünfmal und dann den ganzen Tag.
„Es hat lange gedauert“, erinnert sich Alica. „Jetzt, 20 Monate später, kann ich einmal am Tag fünf Minuten frei gehen. Ich kann wieder selbstständig die Zähne putzen, essen, zehn bis 20 Minuten telefonieren, einen Apfel schneiden, einmal die Woche die Haare waschen, einmal mich im Bett waschen.“ Und auch das erzählt Alica mit Stolz: „Ich kann aus dem Fenster schauen und meine Hand rausstrecken, um beispielsweise den Regen und den Schnee zu fühlen.“ Sie ergänzt: „Das klingt für viele nach nichts Besonderem, aber für mich ist es das.“ Aus 30 Symptomen, die sie gleichzeitig belasten, sind drei geworden. „An schlechten Tagen sind es fünf. Ich weiß, dass ich mich auf einem guten Weg befinde.“
Wie es sich anfühlt, so aus dem Leben gerissen zu werden? „Der blanke Horror.“ Von jetzt auf gleich habe ich den kompletten Kontrollverlust erlitten, über meinen Körper, über mein Leben. Das war richtig schlimm.“
Auch ihre Hündin Josie musste Alica abgeben, „ich konnte meine Jobs und meine Hobbys nicht mehr durchführen, musste meinen Wohnort verlassen und in mein altes Kinderzimmer ziehen, konnte mit meinen Freunden und Bekannten fast ein Jahr lang nicht kommunizieren, mein Partner hat sich getrennt“. Alica atmet tief durch: „Puh, das war schon ganz schön viel.“
Umzug in behindertengerechte Wohnung steht bald an
Alica hat nun eine Wohnung in der Nähe ihrer Eltern gefunden, die behindertengerecht ist. „Im Februar ziehe ich um und meine Hündin Josie kommt wieder.“ Darauf freut sie sich sehr. „Ein Schritt weiter in ein selbstbestimmteres und selbstständigeres Leben.“ Aufgeben war für Alica nie eine Option. „Auch als es mir sehr schlecht ging, habe ich immer daran gedacht, dass ich gesund werde. Eine Genesung verläuft nicht immer linear, egal bei welcher Erkrankung. Es gibt gute und schlechte Tage.“ An richtig miesen Tagen führt sie sich dann vor Augen, was sie schon alles erreicht hat – und auch ihr Humor hilft ihr dabei, nicht durchzudrehen.
„Meine Familie und meine Freunde sind eine riesengroße Unterstützung, und auch meine ehemaligen Arbeitskollegen und Chefs sprechen mir Mut zu, greifen mir unter die Arme. Ich habe da einfach richtig viel Glück mit meinem Umfeld.“ Für die Zukunft hat Alica viele kleine Wünsche: „Ich möchte mit Josie spazieren gehen, auf dem Balkon sitzen, etwas backen, tanzen und vielleicht im Sommer nach Neviges ins Wellenbad gehen. Auch wenn es erstmal nur eine halbe Stunde wäre.“ Und „da ich ein riesiger Star-Wars-Fan bin, würde ich gerne die neuen Serien schauen. Aktuell kann ich leider noch kein Fernsehen schauen und Handyzeit ist nur sehr begrenzt möglich.“
Wenn Alica wieder fitter ist, will sie auf jeden Fall wieder als Physiotherapeutin arbeiten und sich dann auf chronische Schmerzpatienten und Menschen mit ME/CFS und ähnlichen Erkrankungen spezialisieren“. Eben anderen Menschen aus dem Albtraum helfen, der sie selbst seit zwei Jahren begleitet.
Wer Alica helfen möchte, kann dies mit einer Spende bei Gofundme tun: https://gofund.me/e8685b41, die Aktion hat eine Freundin für sie ins Leben gerufen. Wer Alicas Genesungsweg verfolgen möchte, findet sie bei Instagram: www.instagram.com/alica_im_wunderland/