Velbert. Als das Velberter Baby Leni in der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt, wiegt sie 460 Gramm. Wieso das kleine Mädchen ein Wunder ist.
Friedlich liegt Leni auf dem Arm ihrer Mama Jil und schlummert. Als sie ihre kleinen Äuglein öffnet, gleitet ein Lächeln über ihre Lippen, Mama Jil streicht vorsichtig über die Wange ihres vier Monate alten Babys.
Dass Jil ihr Baby in den Armen halten darf, grenzt an ein Wunder. Denn das Kind der Velberterin ist ein Frühchen. Eigentlich hätte Leni am 5. Dezember auf die Welt kommen sollen. Doch sie kam am 4. August 2023. In der 22. Schwangerschaftswoche. „Plus drei“, ergänzt Jil. Diese drei Tage sind für Lenis Überlebensgeschichte wichtig. Doch dazu später.
Frühchen Leni aus Velbert ist absolutes Wunschbaby
Jil leidet unter Endometriose. Bereits zwei Operationen an der Gebärmutter musste sie sich unterziehen und ihr Arzt sagte: „Wenn Sie ein Kind bekommen wollen, dann jetzt.“ Denn ihre Gebärmutter veränderte sich weiter. Die 28-Jährige zögert nicht lange. Denn sie möchte unbedingt Mama werden. Obwohl die Wahrscheinlichkeit lediglich bei 24 Prozent liegt, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, klappt es nach einigen negativen Schwangerschaftstests endlich.
Die ersten Monate der Schwangerschaft läuft alles gut. Jil ist eine sportliche und aktive Frau. Und ihr Arzt sagt „Machen Sie alles weiter wie bisher.“ Also genießt die junge Frau ihre Schwangerschaft, freut sich, dass ihr nicht übel ist und alles unkompliziert verläuft. Sie kümmert sich weiter um ihr Pferd und reitet auch. Bei der Babyparty erfährt sie das Geschlecht ihres Kindes: Es wird ein Mädchen.
Bauchschmerzen der Velbertin sind Wehen
Anfang August hat Jil leichte Bauchschmerzen. Sie wird beruhigt: „Das ist normal, der Körper bereitet sich auf die Geburt vor“, wird ihr gesagt. Doch sie erinnert sich. „Sobald ich aufgestanden bin, hatte ich ein deutliches Stechen.“ Zwei Tage später, sie ist gerade auf dem Weg zum Stall, um den Tierarzt für ihr Pferd in Empfang zu nehmen, sind die Schmerzen so massiv, dass sie sich entschließt ins Klinikum Niederberg zu fahren.
Als sie untersucht wird, sagt der Arzt: „Ihr Baby kommt jetzt. Sie haben Wehen.“ Jil ist geschockt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und sie muss sich sofort entscheiden: Möchte sie ihr Kind im Klinikum zur Welt bringen? „Hier hätten sie mein Kind nicht behandeln können. Sie haben mir gesagt, sie legen es mir nach der Geburt auf den Arm. Aber ich dachte nur, ich kann doch nicht dabei zusehen, wie mein Kind in meinen Armen stirbt.“
Jil möchte, dass Leni eine Chance aufs Leben bekommt
Erst ab der 22. Schwangerschaftswoche plus einen Tag dürfen Ärzte überhaupt Frühchen am Leben erhalten. Mit zwei Tagen darüber, bleibt Jil die Entscheidung überlassen, ob sie das möchte. Sie entscheidet sich schließlich und möchte „die Maximalversorgung.“ Dabei wusste die junge Mutter erst gar nicht, was das bedeutet.
Die Ärzte telefonieren die umliegenden Krankenhäuser ab. Düsseldorf, Essen, alle Kliniken sind voll, haben Personalmangel oder wollten sie in der frühen Schwangerschaftswoche nicht aufnehmen. Doch für Jil steht fest: „Ich will hier weg und in ein Krankenhaus, in dem die Ärzte sich mit dieser Schwangerschaftswoche auskennen.“
Wettlauf gegen die Zeit: Baby Leni darf nicht im Krankenwagen zur Welt kommen
Schließlich erklärt sich Köln bereit, die beiden aufzunehmen. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn Leni will raus, darf aber nicht im Krankenwagen zur Welt kommen. Denn auch wenn zwei Ärzte die junge Velberterin im Krankenwagen begleiten und sogar ein weiterer Notarzt hinterherfährt, können sie lediglich die Mutter versorgen. Ihr Freund fährt hinter dem Krankenwagen her. Die Wehen von Jil werden jedoch immer stärker und auch die Wehenhemmer, die ihr nahezu unentwegt verabreicht werden, helfen nicht mehr.
Doch Jil kommt in Köln an, erstaunlicher Weise noch mit ihrem Baby im Bauch. Ihre Eltern, zu der Zeit noch im Urlaub in Hamburg, machen sich sofort auf den Weg. Jils Mutter versucht sie am Telefon zu beruhigen: „Ich bin gleich da, Alles wird gut.“ Ihr Freund und die „Schwiegermama“ bleiben bei Jil. Auch Sie können die Entscheidung nicht abnehmen und machen sich große Sorgen. „ Ich stehe zu 100 Prozent hinter deiner Entscheidung“, sagte ihr Freund.
Überlebenschancen bei extremen Frühchen sind sehr gering
Große Hoffnungen machten die Ärzte ihnen nicht, „denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind in dieser Zeit stirbt, liegt bei 95 Prozent und wenn es überlebt, dann mit schweren Behinderungen.“ Jil ist verzweifelt, denn sie trifft allein die Entscheidung über das Leben ihrer Tochter, während sie die Tritte ihres Babys weiterhin im Bauch spürt. Aber dann sagt sie zu den Ärzten: „Ich bringe das Baby auf die Welt und dann soll es selbst entscheiden, ob es leben möchte.“
Kaum ist das kleine Mädchen auf der Welt, bringen Ärzte sie sofort auf die Intensivstation und kämpfen um sein Leben. Denn in dieser Schwangerschaftswoche ist die Lunge noch nicht ausgereift. Jil muss währenddessen unter Vollnarkose die Gebärmutter ausgeschabt werden. Als sie erwacht ist ihre erste Frage: „Lebt sie?“ Ja, das Baby lebt und kämpft. Sie wird mit dem Rollstuhl zu ihr gefahren. Die kleine Tochter ist 26 Zentimeter lang und wiegt 460 Gramm.
Nach der Geburt heißt es, durchhalten und kämpfen
Ab jetzt gilt es für Leni zu kämpfen und für ihre Mama durchhalten. „Ich musste direkt nach der Geburt funktionieren und wusste, ich muss für sie da sein.“ Ihre ganze Familie hielt ihr den Rücken Zuhause frei. Denn ab jetzt fährt Jil jeden Tag von Velbert nach Köln und sitzt sechs bis sieben Stunden am Inkubator, redet ihrer kleinen Tochter gut zu. Ab dem vierten Tag darf Jil ihre Tochter jeden Tag Haut auf Haut spüren, damit das Baby den gewohnten Herzschlag hört. „Daran bin ich selbst fast zerbrochen“, sagt sie. „Aber die Ärzte haben gesagt, dass die Mama jetzt das Wichtigste ist. Ich bin der Grund, weshalb das Kind lebt, sie muss wissen, dass sie gewollt ist.“
Und so kämpfen die Beiden, Tag für Tag. „Das Risiko, dass die Lungen zusammenfallen, dass es eine Hirnblutung gibt, all das war sehr groß und wir mussten immer bereit sein um Tag und Nacht zu ihr zu fahren, wenn es Komplikationen gibt“, sagt Jil. Und sie fragt sich immer wieder: „Wie lange kann ich das aushalten?“ Doch die Familie hält durch und Leni auch. Auch wenn der kleine Körper übersät ist mit blauen Flecken, wenn jede noch so sanfte Berührung dem winzigen Baby weh tut, weil alles so empfindlich ist, will Leni leben. „Löwenbaby“ nennt Jil ihre Tochter mittlerweile. Wegen ihrer Willenskraft und, weil sie vom Sternzeichen eben Löwe ist.
Das große Ziel: Weihnachten zu Haus verbringen
Zwei Löcher im Herzen heilen, ebenfalls ein Loch im Darm. Ihr Gewicht fällt von 460 auf 320 Gramm. Doch die kleine Kämpferin berappelt sich immer wieder. „Immer wenn wir gedacht haben, jetzt haben wir den Punkt überwunden und es geht bergauf , ging es wieder zurück.“ Doch am 31. Oktober, als Leni endlich ein Körpergewicht von einem Kilo erreicht hat, nahm sie stetig zu. Und sie darf von der Intensivstation auf die Frühgeborenenstation. Jil zieht zu ihr ins Krankenhaus und verbringt fortan Tag und Nacht mit ihrem Löwenbaby, mit dem festen Ziel vor Augen, Weihnachten zu Haus zu verbringen.
Am 5. Dezember wäre Lenis errechneter Geburtstermin. Zu diesem Zeitpunkt ist sie schon vier Monate auf der Welt. Am 20. Dezember ist es dann endlich soweit: Jil darf mit Leni nach 139 Tagen nach Hause und ihr erstes Weihnachten Zuhause verbringen. Ein normales Leben als Mama kann Jil aber noch nicht führen. „Babyschwimmen, Krabbelgruppe oder nur mit ihr einkaufen gehen, das können wir alles nicht machen“.
Die Gefahr, sich anzustecken, ist einfach zu groß. Zudem hat Leni noch ein Sauerstoffgerät, dass ihre Atmung „mit einem Flow“ unterstützt und einen Monitor, der die Herzfrequenz und den Co2-Gehalt misst und kontrolliert, wie viel sie atmet. Damit kann Jil immer ihre Werte kontrollieren. Zudem reihen sich Arzttermine aneinander. „Kinderarzt, Augenarzt, Kardiologe, Lungenarzt“, zählt Jil auf. Dazu hat Leni Hausbesuche von der Physiotherapie, der Hebamme und der Krankenschwester. Auch an einen Urlaub, den sich die kleine Familie einst ausgemalt haben, ist noch lange nicht zu denken. „Das Sauerstoffgerät reicht nur für ein paar Stunden, um mobil unterwegs zu sein.“
Jil ist sich sicher, dass ihr Löwenbaby gesund ist
Weshalb Leni zu früh auf die Welt gekommen ist? Die Ärzte vermuten als Grund eine Entzündung im Körper von Jil. „Entweder Lenis oder mein Körper haben dann wohl entschieden, dass die Überlebenschance außerhalb des Mutterleibs größer sind.“
Ob Leni ein ganz gesundes Kind wird? „Ja, ich glaube, sie wird keine Beeinträchtigung haben“, sagt Jil energisch, ohne jeglichen Zweifel. „Sie braucht einfach nur ein bisschen Zeit.“ 2800 Gramm wiegt Leni nun schon und Jil bereut nicht eine Sekunde diesen Kampf gekämpft zu haben. „Ich genieße jeden kleinen Moment mit ihr“, sagt Jil und sie spürt „die Bindung zwischen uns beiden ist wahnsinnig groß.“ Wenn Jil ihr kleines Wunder in den Armen hält, dann lächelt sie und Leni lächelt zurück.