Oberhausen. Das Theater Oberhausen bringt Ralf Rothmanns Revier-Klassiker „Milch und Kohle“ auf die Bühne. Der Autor schaut sich die Premiere persönlich an.

Sie habe sich „schockverliebt in diesen Stoff“, sagt Maike Bouschen. Die 33-jährige Regisseurin hatte dem Oberhausener Theaterpublikum im Vorjahr viel Vergnügen bereitet mit dem in jeder Hinsicht knallbunten Liebesdrama „Zwei Herren von Real Madrid“. Nun folgt, wenn man so will, der Klassiker der Oberhausen-Literatur. Als der Roman „Milch und Kohle“ pünktlich zum Ende der 1990er Jahre erschien, nannte ihn die Neue Zürcher Zeitung gar „eine Wohltat“, weil er (nicht nur den saturierten Schweizern) „ein Leben jenseits von Joop und Armani“ beschreibt. Etliche weitere Rezensenten der Erstauflage zitierten jenen Rothmann-Satz, der auch für die Regisseurin zentrale Bedeutung hat: „Die wirklich Trauernden erkennt man an ihrem Humor.“

Das Vergnügen von Ensemble und Regieteam, „sich volle Kanne reinzuschmeißen“ in diese Revier-Geschichte, bedeutet nämlich keinen Ansatz, wie ihn die „Spielkinder“ mit ihren bereits landauf, landab (und auch im Gdanska) präsentierten Rothmann-Potpourris praktizieren: Aus dem herben Erzähler und genauen Beobachter wird hier kein Komiker - obwohl „Spielkind“ Till Beckmann zusammen mit Maike Bouschen die Schauspiel-Fassung des Romans geschrieben hat. Die Premiere der rund zweistündigen Inszenierung steigt am Freitag, 20. September, um 19.30 Uhr mit großer Besetzung im Großen Haus und hat nur noch wenige Restkarten anzubieten.

Till Beckmann, hier vor der heutigen Schul- und Sozialkirche St. Jakobus am Tackenberg, einer Hörstation des „Overhausen“-Audiowalk.
Till Beckmann, hier vor der heutigen Schul- und Sozialkirche St. Jakobus am Tackenberg, einer Hörstation des „Overhausen“-Audiowalk. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Allerdings wissen Rothmann-Leser: Seine Romane, bis zum jüngsten, „Die Nacht unterm Schnee“, aus dem er an seinem 70. Geburtstag im Theater Oberhausen mit Till Beckmann gelesen hatte, kreisen um die eigene Familiengeschichte. Erst mit dieser Erzählung von der Flucht einer 16-Jährigen im Winter 1945 aus Danzig, ihrer Vergewaltigung und Rettung, erklärt sich das Verhalten der verzweifelt-lebenshungrigen Liesel (Susanne Burkhard) im 22 Jahre älteren Roman „Milch und Kohle“.

„Nur eine Stunde müßtet ihr mal da runter. Gestern bis zum Bauch im Wasser. Nie ein Stück Himmel.“

Ralf Rothmann (71)
aus „Milch und Kohle“

Nein, sie wollten die miteinander verbundenen Geschichten einer Familie (mit wechselnden Namen) nicht miteinander verquirlen, betonen Maike Bouschen und Dramaturgin Laura Mangels. Aber während der Proben liefert der im älteren Roman noch unerzählte Hintergrund eine Erklärung für den Schmerz und die Sprachlosigkeit: Denn Liesel ist eine Mutter, die auf ihre Kinder einschlägt. Und Walter (Jens Schnarre), der Vater und einst Melker im ländlichen Schleswig, zieht sich stumm zurück - zu den Kanarienvögeln im Keller. Die größte Protestrede des Hauers unter Tage besteht aus drei knappen Sätzen:  „Nur eine Stunde müßtet ihr mal da runter. Gestern bis zum Bauch im Wasser. Nie ein Stück Himmel.“

Die Eltern Walter und Liesel (Charly Hübner und Lina Beckmann mit Oscar Brose) 2015 am Set des Films „Junges Licht“, mit (re.) Regisseur Adolf Winkelmann.
Die Eltern Walter und Liesel (Charly Hübner und Lina Beckmann mit Oscar Brose) 2015 am Set des Films „Junges Licht“, mit (re.) Regisseur Adolf Winkelmann. © picture alliance / dpa | Horst Galuschka

Die Erzählerrolle in diesem Familiendrama bleibt beim 15-jährigen Sohn Simon (Tim Weckenbrock). „Es ist immer der Blick von Rothmann“, sagt Maike Bouschen: „Er kommt als Erwachsener aus Berlin zurück an den Tackenberg und erinnert sich.“ Im sprunghaften Wechsel der Situationen nahm sich das Duo Bouschen und Beckmann die meisten Freiheiten gegenüber dem Roman, zeigt die Episoden in einer neuen, assoziativen Reihenfolge. Und sie ergänzen das ohnehin schon große Rollen-Tableau aus der Hauptdarstellerin und sieben Schauspielern des Ensembles um einen großen Frauenchor.

Chor aus neun Zeuginnen gibt „ein Abbild der Zeit“

„Wie Zeuginnen“, so beschreibt die Regisseurin den Part dieser neun Laien-Darstellerinnen, „ein Abbild der Zeit“. Niemand sprach über häusliche Gewalt vor mehr als einem halben Jahrhundert. Dennoch war nichts wirklich „privat“ in den 50-Quadratmeter-Wohnungen mit dünnen Wänden. Als Adolf Winkelmann, der große Revier-Chronist mit der Kamera, den auf „Milch und Kohle“ folgenden Roman „Junges Licht“ verfilmte, legte er großen Wert darauf, diese klaustrophobische Wohnsituation exakt nachzubauen - und auf den „Bonanza“-Trick zurückzugreifen: Er verbannte die Kamera hinter Sehschlitze in den engen Wänden.

Ausstattungsleiterin Franziska Isensee gestaltet das Bühnenbild für „Milch und Kohle“ als „Käfig der Erinnerungen“.
Ausstattungsleiterin Franziska Isensee gestaltet das Bühnenbild für „Milch und Kohle“ als „Käfig der Erinnerungen“. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Ein quasi-naturalistisches Zechensiedlungs-Bühnenbild ist von Oberhausens Chefausstatterin Franziska Isensee sicher nicht zu erwarten: Laura Mangels umschreibt es als „Käfig der Erinnerungen“ - in dem übrigens alle zehn Akteurinnen und sieben Akteure ständig präsent sein werden. In dieser wohl gedrängten Fülle bewohnt Simon ganz allein, so beschreibt‘s die Dramaturgin, „einen Erinnerungspalast“. Tim Weckenbrock lebt dann - mehr als einen „momentlang“ - in der herben bis poetischen, dabei stets genauen Sprache Ralf Rothmanns.

Nach der zweiten Aufführung gibt‘s die Theaterpreise

Der Premiere von „Milch und Kohle“ am Freitag, 20. September, folgen am Samstag, 28., eine weitere Aufführung im September, sowie vier Termine im Oktober: an den Sonntagen, 6. und 13. Oktober, jeweils um 18 Uhr, sowie am Mittwoch, 16.., und Samstag, 26. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr. Karten von 13 bis 26 Euro gibt‘s an der Theaterkasse, 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de.

Im Anschluss an die „Milch und Kohle“-Aufführung am Samstag, 28. September, verleiht der Freundeskreis Theater für Oberhausen die Oberhausener Theaterpreise: in vier Jury-Kategorien und einem Publikumspreis.