Oberhausen. Ein Teil der Angestellten der Lebenshilfe Oberhausen schildern schlimme Arbeitsbedingungen. Sie fühlen sich überlastet und im Stich gelassen.

  • Schwere Vorwürfe gegen die Lebenshilfe Oberhausen: Angestellte reden von einem eklatanten Personalmangel
  • Sie fühlen sich überlastet und im Stich gelassen
  • Die emotionale Belastung nach einem Todesfall in der Behinderten-Werkstatt ist groß

Trauer, schwelende Konflikte, Verzweiflung, schlimme Vorwürfe: Bei der Lebenshilfe in Oberhausen rumort es derzeit. So berichten es Angestellte, die sich hilfesuchend an unsere Redaktion gewandt haben. Die Stimmung sei kaum auszuhalten, die Gründe seien vielfältig.   

In den Teams herrscht noch immer Trauer und Bestürzung über den tragischen Todesfall, der die Lebenshilfe am Mittwoch, 27. Februar, erschütterte: An diesem Tag, um 4.40 Uhr morgens, findet die Polizei die Leiche einer jungen Frau im unmittelbaren Umfeld der Werkstatt für Menschen mit Behinderung im Stadtteil Königshardt – ihrem Arbeitsplatz. Die 22-Jährige, die am Vortag von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden war, wird nie wieder nach Hause kommen.

Todesfall bei der Lebenshilfe Oberhausen: Junge Mitarbeiterin wurde erdrosselt

Die Oberhausenerin ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde in den Mittagsstunden des Vortages erdrosselt, wie die zuständige Staatsanwaltschaft in Duisburg auf Nachfrage mitteilt. Mutmaßlicher Täter: ein 27 Jahre alter Mann, der, wie auch die Getötete, als Mitarbeiter mit geistiger Behinderung in der Werkstatt tätig war. Der Oberhausener ist in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, im Oktober muss er sich vor dem Landgericht Duisburg verantworten.

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Die psychische Belastung durch den Todesfall trifft nach Darstellung zweier Angestellter der Lebenshilfe auf ein Team, das ohnehin unter enormem Druck steht. Das Arbeitspensum sei nicht mehr zu bewältigen, das Personal sei viel zu knapp kalkuliert. Die Arbeitsbedingungen für die Angestellten, die die Menschen mit geistiger Behinderung in den Werkstätten anleiten, sie unterstützen und damit viel Verantwortung tragen, seien nicht akzeptabel.

„Viele haben Angst.“

Angestellter der Lebenshilfe

Ihren Namen möchten die beiden Angestellten nicht öffentlich lesen, weil sie Repressalien ihres Arbeitgebers fürchten. Dies sei auch der Grund, warum nur sie das Gespräch mit unserer Redaktion suchen – und keine weiteren aktiven Kolleginnen und Kollegen. „Viele haben Angst“, sagt einer der beiden Angestellten. Die Geschäftsführung der Lebenshilfe habe angewiesen, mit niemandem über die Arbeitsbedingungen und den Todesfall zu reden. Sonst würden harte Konsequenzen folgen. Die Geschäftsführung bestreitet dies, wie auch alle anderen Vorwürfe. Man habe lediglich gebeten, „sich nicht an Gerüchten und Spekulationen zu beteiligen“, schreiben der Vorstandsvorsitzende Jürgen Fischer und die Geschäftsführerin Verena Birnbacher auf Nachfrage der Redaktion in einer Stellungnahme.

Die Lebenshilfe-Werkstatt

Die Königshardter Werkstatt der Lebenshilfe ist eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, die in verschiedenen Bereichen arbeiten, etwa in der Schlosserei, im Lager, in der Küche oder im Fensterbau. Unternehmen können die Lebenshilfe mit entsprechenden Arbeiten beauftragen. Rund 250 Menschen haben am Standort Oberhausen-Königshardt jeweils einen Platz in einer von 14 Gruppen, um sie an der Arbeitswelt teilhaben zu lassen.

Die Lebenshilfe spricht von ihnen als „Mitarbeiter“ zur sprachlichen Unterscheidung zu den „Angestellten“ der Lebenshilfe, also etwa den Gruppenleitern und Bürokräften. Die Kosten der wichtigen Arbeit trägt die Allgemeinheit über den durch die Städte finanzierten Landschaftsverband Rheinland (LVR).

Wir sprechen weitere Angestellte an, fragen nach der Arbeit, der Stimmung im Team und den Arbeitsbedingungen. Doch die meisten reagieren auf die gleiche Weise: Sie schrecken zurück, brechen das Gespräch abrupt ab, schütteln mit dem Kopf und ziehen sich zurück.

Hinter vorgehaltener Hand: Viel Kritik an der Lebenshilfe Oberhausen

Auch in Rathaus-Kreisen sowie im Umfeld der sozialen Arbeit in Oberhausen möchte niemand offen Kritik äußern. Doch hinter vorgehaltener Hand signalisieren viele, die Sorgen und Ängste der Angestellten nachvollziehen zu können. Es gebe zahlreiche Probleme. Auf die Frage, warum sich denn dann niemand offiziell äußern mag, bekommen wir keine Antwort.

„Trotz der schlimmen Umstände hängen meine alten Kollegen an ihrem Job.“

Ehemaliger Angestellter der Lebenshilfe Oberhausen

Ein ehemaliger Angestellter der Lebenshilfe hat eine Vermutung: „Trotz der schlimmen Umstände hängen meine alten Kollegen an ihrem Job, ihre Arbeit bedeutet ihnen viel.“ Er hat noch heute Kontakt zu ihnen. Auch er hört von den Klagen. „Das wundert mich nicht“, sagt er im Gespräch mit der Redaktion. Schon zu seiner Zeit, und das sei nun schon einige Jahre her, habe es große Personalprobleme gegeben.

Lebenshilfe Oberhausen: Angestellter stellte Überlastungs-Anzeige

Der Redaktion liegen schriftliche Dokumente von glaubwürdiger Quelle vor, in denen die aktuellen Probleme behauptet und beschrieben werden. Ein Schreiben vom 8. Dezember 2023, adressiert an die Königshardter Lebenshilfe-Werkstatt, trägt persönliche Unterschriften von 14 Gruppenleitern und -leiterinnen der Oberhausener Lebenshilfe. „Am heutigen Freitag waren 6 von 21 Fachkräften im Dienst“, heißt es darin. Und: „Leitungskräfte waren nicht zugegen aufgrund von Krankheit oder anderer Umstände.“ Die Unterzeichner warnten damals: „Wir übernehmen keine Haftung für etwaige Vorfälle im laufenden Betrieb. Eine fachgerechte Betreuung der uns anvertrauten Mitarbeiter ist so nicht zu gewährleisten. Wir würden uns für die Zukunft wünschen, dass es einen ,Plan B‘ für solche Ausnahmesituationen gibt, und wir nicht auf uns allein gestellt sind. Leider müssen wir die geschilderten Umstände schon länger mittragen, können dies aber nicht mehr leisten.“

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Zudem liegt der Redaktion eine sogenannte Überlastungsanzeige eines Angestellten von Anfang März 2024 in Kopie vor. Darunter versteht man eine schriftliche Mitteilung an den Arbeitgeber, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsaufgaben gefährdet ist, und sogar Schäden zu befürchten sind. Als Grund gab der Angestellte unbesetzte Stellen in der Königshardter Werkstatt an. „Aus diesem Grund war es nicht möglich, die notwendige Betreuungsleistung zu erbringen und die Aufsicht zu gewährleisten“, heißt es darin. Die Lebenshilfe-Leitung möchte sich zu den Dokumenten nicht öffentlich äußern.

Bei Arbeit mit behinderten Menschen gibt es einen Personalschlüssel

Für die Betreuung in den Werkstätten gibt es einen rechtlich bindenden Personalschlüssel: Demnach muss es für zwölf Menschen mit Hilfebedarf einen Gruppenleiter oder eine -leiterin geben. Doch dieser Schlüssel werde nicht immer eingehalten, behaupten die Angestellten. Dafür gebe es viel zu wenig Personal.

„Ich bin teilweise für 40 Mitarbeiter verantwortlich“, sagt einer der beiden Angestellten. „In den Pausen, wenn mehrere Gruppen zusammentreffen, tummeln sich auch gerne mal 125 Menschen auf dem rund 25.000 Quadratmeter großen Gelände. Da kann man nicht überall seine Augen haben.“

Der Tragweite ihrer Vorwürfe ist sich die kleine Gruppe bewusst. Der Lebenshilfe droht ein Imageschaden. Der Schritt an die Öffentlichkeit sei ihnen daher nicht leichtgefallen. Auch deshalb, weil die Aufgaben der Lebenshilfe so wichtig sind: Menschen mit geistiger Behinderung auf Augenhöhe begegnen, sie und ihre Arbeit wertschätzen, ihnen eine wichtige Aufgabe geben.

„Die Lebenshilfe Oberhausen hält die Vorgaben der Werkstättenverordnung für Betreuung und Förderung der Menschen mit Behinderung in sämtlichen Werkstätten ein.“

Verena Birnbacher
Geschäftsführerin der Lebenshilfe Oberhausen

Doch zwischen manchen Angestellten und Führung scheinen sich tiefe Gräben aufzutun. Geschäftsführerin Verena Birnbacher wehrt sich gegen den Vorwurf, nicht für ausreichendes Personal in den Werkstätten zu sorgen. „Die Lebenshilfe Oberhausen hält die Vorgaben der Werkstättenverordnung für Betreuung und Förderung der Menschen mit Behinderung in sämtlichen Werkstätten ein.“ Die zuständige Behörde nach dem Wohn- und Teilhabegesetz (ehemals Heimaufsicht) der Stadt Oberhausen habe die Werkstätten der Lebenshilfe Ende 2023 kontrolliert und keine Mängel festgestellt. Eine Begehung der Bezirksregierung im Juni 2024 habe ebenso keine Mängel ergeben.

Dieser Text erschein erstmals am am 6. August 2024 im Online-Portal der WAZ Oberhausen.