Mülheim. Straftaten an Schulen nehmen zu. Jugendliche bewaffnen sich gezielt für den Schulweg. Polizist kennt erschreckende Geschichte eines Neunjährigen.

Was ist an Mülheims Schulen los? Mit dieser Frage beschäftigt sich Martin Rieth, Jugendkontaktbeamter der hiesigen Polizei, seit 2007. Aktuell bereitet ihm vor allem eine Entwicklung Bauchschmerzen: Es gibt immer mehr Schüler und Schülerinnen, die Messer bei sich tragen - und durchaus bereit sind, diese einzusetzen. Die Statistik bestätigt sein Gefühl. Und auch Bezirksschülersprecher Samuel Bielak warnte jüngst im Bildungsausschuss: „In einem bestimmten Alter ist es schon fast normal, ein Messer dabei zu haben.“ Für Rieth besteht Handlungsbedarf: „Es kann nicht sein, dass es immer mehr in Richtung Bewaffnung der Schüler geht.“

Für das Jahr 2022 weist die Statistik für Mülheim 190 Straftaten an Schulen oder bei Klassenausflügen aus. 2023 tragen bereits 254 Fälle die Überschrift „Tatort Schule“. Die Zahlen für 2024 gibt die Polizei erst in einigen Wochen bekannt. Von jenen 254 in 2023 angezeigten Vorfällen an Mülheims Schulen wurden laut Rieth 138 aufgeklärt. 115 Täter waren bis 21 Jahre alt, die restlichen älter.

Mülheimer Polizist spricht von deutlich mehr Taten mit Messern

Mit über einem Drittel machten Diebstahlsdelikte den größten Anteil an den Taten aus. Doch auch Körperverletzungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Schwarzfahren waren reichlich dabei. Vor allem die Zahl der Messertaten hat sich „dramatisch“ entwickelt, sagt der Fachmann. Im gesamten Zuständigkeitsbereich der Polizei Essen/Mülheim wurden 311 Fälle in 2023 registriert, bei denen im schulischen Kontext Stichwaffen gezückt, Menschen damit bedroht oder gar verletzt wurden. Rund ein Fünftel dieser Vorfälle, so die Schätzung, fand in Mülheim statt.

Laut Rieth gab es bei diesen Delikten im Präsidiumsbereich „insgesamt einen Anstieg um 35,8 Prozent gegenüber 2022“. 40 Mal verwendeten Schüler und Schülerinnen Butterflymesser oder ähnliches, die wegen der besonderen Gefährlichkeit unter das Waffengesetz fallen. Auch dort seien die Zahlen angewachsen.

Rieths Motto? „Wehret den Anfängen“

Das Zahlenwerk spricht eine deutliche Sprache. Doch in Mülheim, beruhigt der Jugendkontaktbeamte, ist die Situation noch lang nicht so schlimm wie in Essen. Man habe hier „eine grundsätzlich andere Bevölkerungsstruktur“. Die Probleme, die man der Nachbarstadt in manchen Stadtteilen vorfinde, gebe es in Mülheim so gar nicht. „Man stöhnt in Mülheim auf hohem Niveau“, sagt Rieth. „Trotzdem ist es wichtig, das Problem anzugehen.“ Sein Motto: „Wehret den Anfängen.“ Schließlich müsse man davon ausgehen, „dass deutlich mehr Messer im Umlauf sind, als die Polizei weiß“.

Zumeist sind es männliche Jugendliche, die die Klingen mit sich führen. „Manche Schüler glauben irrtümlich, sich bewaffnen zu müssen, wenn sie auf ihrem Schulweg problematische Räume durchlaufen, etwa am Hauptbahnhof vorbeikommen oder an der Haltestelle Stadtmitte.“ Andere tragen Messer oder auch Softair-Pistolen mit sich rum, um damit anzugeben. Doch es gibt auch Sachverhalte, die ganz anders gelagert sind und durchaus geeignet sind, zu schockieren.

Grundschüler bringt gleich drei Messer mit und jagt eine Neunjährige über den Sportplatz

Etwa die Geschichte eines Neunjährigen, der in einer mit Dinosauriern verzierten Umhängetasche drei Messer mit in die Grundschule brachte. „Er hat sich oft mit einer gleichaltrigen Mitschülerin gestritten, sie dann mit einem Messer bedroht und über den halben Sportplatz gejagt.“ Dabei habe er geschrien: „Ich bringe dich um.“ Ein Lehrer fing den wildgewordenen Jungen ein und informierte die Polizei. Mit neun Jahren sei man natürlich noch nicht strafmündig, so Rieth, und doch müsse eine solche Tat, die polizeiintern unter die Überschrift „Amokandrohung“ läuft, natürlich aufgearbeitet werden. „Dafür haben wir in Mülheim zum Glück ein super Netzwerk.“

Martin Rieth (61), seit 2007 Jugendkontaktbeamter der Polizei in Mülheim.
Martin Rieth (61), seit 2007 Jugendkontaktbeamter der Polizei in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

An der sogenannten Helferkonferenz sind Mitarbeitende der Polizei und des Jugendamtes beteiligt, Psychologen der Schulberatungsstelle des Gesundheitsamtes sowie die Schulleitung und die Eltern. Bei dem Neunjährigen habe sich gezeigt, „dass er die Trennung seiner Eltern nicht bewältigt hatte“. Man habe ihn nicht für langfristig gefährlich erachtet, nach einer Begutachtung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Hause geschickt. Zum Teil folgen solchen Taten aber auch Schulverweise oder andere Sanktionen. „Sie stellen ja klar einen Verstoß gegen die Schulordnung da, können den Schulfrieden gefährden.“

Jugendlicher sticht Mitschüler mit Schere ins Bein

Zu den Fällen, die Rieth in jüngerer Zeit besonders haften geblieben sind, zählen drei aus weiterführenden Schulen: Ein Oberstufenschüler fürchtete, als Verlierer aus einem Streit hervorzugehen, zückte daraufhin ein Messer und bedrohte seinen Kontrahenten aufs Übelste. Ein anderer Jugendlicher stach einem Mitschüler mit einer Schere ins Bein. Und eine 13-Jährige versetzte eine ehemalige Klassenkameradin mit einer Klinge in Angst und Schrecken, weil sie der Auffassung war, in einem sozialen Netzwerk beleidigt worden zu sein.

Das Internet, so sagt Rieth, ist häufig ursächlich für erbittert ausgeführte Streitigkeiten. „Die Geschichten entwickeln sich oft ähnlich. Dann heißt es, ,der und der hat das und das gesagt‘, und die betroffene Person wird vor der Schule abgefangen, um die Sache zu klären.“ Dieses Klären habe allerdings immer seltener mit dem Austausch von Worten zu tun und immer häufiger mit Gewalt. „Jugendliche schaffen es kaum noch, sich Erwachsenen mit ihren Problemen anzuvertrauen“, bedauert Rieth. „So geht die Sache oft schief.“ Leider gingen Zeugen einer Eskalation „aus Gründen der Ehre und Verbundenheit“ auch viel zu selten dazwischen. „Sie glauben, andernfalls ihr Gesicht zu verlieren.“

Jugendkontaktbeamter geht Ende 2025 in Pension: „Das macht mich traurig“

Die allermeisten Mülheimer Schüler und Schülerinnen kennen Martin Rieth. Seit Jahren besucht er regelmäßig die weiterführenden Schulen, klärt über Gefahren auf. Auf diesem Foto präsentiert er das Plakat zum neuen Projekt „Besser ohne Messer“, mit dem seine Kollegen und er ab Sommer 2025 durch die Schulen ziehen werden.
Die allermeisten Mülheimer Schüler und Schülerinnen kennen Martin Rieth. Seit Jahren besucht er regelmäßig die weiterführenden Schulen, klärt über Gefahren auf. Auf diesem Foto präsentiert er das Plakat zum neuen Projekt „Besser ohne Messer“, mit dem seine Kollegen und er ab Sommer 2025 durch die Schulen ziehen werden. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Um dem zunehmenden Problem der Messergewalt Herr zu werden, hat das Land die Kampagne „Besser ohne Messer“ ausgerufen. Auch in Mülheim erarbeitet man dazu aktuell ein Projekt, mit dem man nach den Sommerferien an die Schulen gehen will, erzählt Rieth. Der von den Jugendlichen gern als „unser Schul-Polizist“ bezeichnete Kripomann wird übrigens nur noch bis Ende 2025 am Start sein. Nach 45 Jahren endet sein Dienst bei der Polizei. Ein Moment, den er keinesfalls herbeisehnt, der ihn traurig macht: „In der Präventionsarbeit mit Jugendlichen habe ich meine berufliche Erfüllung gefunden. Da kann man wirklich was bewegen.“

Die Polizei in Mülheim - Lesen Sie auch:

Bleiben Sie in Mülheim auf dem Laufenden!

>> Alle Nachrichten aus Mülheim lesen Sie hier. +++ Abonnieren Sie kostenlos unseren Newsletter per Mail oder Whatsapp! +++ Hier kommen Sie zu unseren Schwerpunktseiten Wohnen, Gastronomie, Handel/Einkaufen und Blaulicht. +++ Zu unserem Freizeitkalender geht es hier. Legen Sie sich doch einen Favoriten-Link an, um kein Event zu verpassen! +++ Lokale Nachrichten direkt auf dem Smartphone: Laden Sie sich unsere News-App herunter (Android-VersionApple-Version).