Mülheim. Ein Experte der Mülheimer Polizei spricht an Schulen mit jungen Opfern und Tätern. Warum es für die Polizei so schwer ist, Schritt zu halten.
Sie ist 16 Jahre alt, als sie Reiterferien bei ihrem Onkel auf dem Hof macht. Am Abend, nach einem langen Tag legt sich die Jugendliche ins Bett, will schlafen. Wenige Momente später merkt sie: Ihr Onkel steigt zu ihr – nackt. Zunächst stellt sie sich schlafend, in der Hoffnung, es hört auf. Doch der Mann berührt sie weiter. Die Jugendliche wehrt sich, es gelingt ihr, den Onkel zu vertreiben.
„Das hat sich eingeprägt“, sagt Martin Rieth, während er am Schreibtisch seines Büros im Mülheimer Polizeipräsidium sitzt. Der Blick aus den braunen Augen ist fest, während der 59-Jährige mit gefalteten Händen vom Fall der 16-Jährigen berichtet, die Opfer eines Missbrauchsversuchs geworden ist und sich ihm anvertraut hat. Eine Geschichte von vielen, die Martin Rieth als sogenannter Jugendkontaktbeamter schon gehört hat. In seinem Beruf – einer Schnittstelle aus polizeilicher und pädagogischer Arbeit – hat er mit solchen Krisen zu tun. „Gewalt, Diebstahl, Mobbing, sexuelle Übergriffe … das sind alles Sachen, die bei mir landen.“
Mülheimer Polizist bietet monatliche Sprechstunde an
Ein Mal im Monat hat der Polizist an jeder von Mülheims weiterführenden Schulen eine Sprechstunde. Schülerinnen und Schüler dürfen ihn aufsuchen, um zu erzählen, was sie bedrückt. Von kindlichen Konflikten bis handfesten Straftatbeständen – die Bandbreite, so Rieth, ist groß.
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Prävention sei neben den Sprechstunden und der akuten Krisenintervention die wichtigste Säule seiner Arbeit, aber: „Wir laufen immer ein Stück weit der Entwicklung hinterher.“ Verständlich, in die Zukunft sehen kann niemand – und dennoch – wo ansetzen? „Anstatt nur Feuer zu löschen und auf Akutes zu reagieren, ist es wichtig, Beständigkeit zu bieten und kontinuierlich zu arbeiten.“ Beispiele dafür seien langangelegte, städteübergreifende Projekte und Kampagnen gegen Netz-Kriminalität wie „Cyber-Emotions“, „sounds wrong“ und „#denkenstattsenden“. Teilweise werden diese dann in den Schulen vorgestellt oder auch erweitert. „Da gibt es verschiedene Konzepte, ich arbeite eng mit den Schulen zusammen.“
Mülheimer Jugendliche sind zuletzt gewalttätiger geworden
Dabei verändere sich Jugendkriminalität sehr stark. „Es ist extrem dynamisch. Das macht es auch schwieriger für uns, die richtigen Ansatzpunkte zu finden.“ Gerade zuletzt sei etwa die Zahl der Körperverletzungen durch Jugendliche enorm gestiegen. Laut Kriminalstatistik waren etwa ein Drittel der Tatverdächtigen (32,4 Prozent) Kinder, Jugendliche oder Heranwachsende unter 21 Jahren. Durchaus alarmierend, urteilt der Jugendkontaktbeamte Martin Rieth. Oftmals seien familiäre Probleme Auslöser, gerade wenn es um Körperverletzungen geht. „Das ist dann ein Ventil für Jugendliche.“
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So war es wohl auch bei dem neunjährigen Grundschüler, der eines Tages mit drei Messern in die Schule kam und einer Mitschülerin unverblümt drohte: „Ich stech’ dich ab!“ In diesem Fall, so der Beamte, waren es schwierige Umstände im Elternhaus, die die Aggressionen des Jungen förmlich explodieren ließen. „Keine Seltenheit“, so Rieth. Bestimmte Risikofaktoren, wie etwa Vernachlässigung, begünstigten so ein Verhalten, aber es gebe auch Schutzfaktoren. „Routinen wie die Teilhabe an einem Sportverein können für viele Jugendliche ein Anker sein.“ Die Realität in den sogenannten Problem-Familien sei oftmals von finanziellen Problemen und existenziellen Ängsten geprägt. „Viele sehen nur das Verhalten, wenige die Ursachen dafür.“
Tiktok treibt Mülheimer Jugendliche zu Gewalt an
Probleme an der Wurzel zu packen und bekämpfen – die Idealvorstellung. Erschwert werde das aber durch die zunehmende Bedeutung von sozialen Medien und Onlinespielen. „Hier kommunizieren die Jugendlichen auf einer ganz anderen Ebene und meistens komplett unbeaufsichtigt.“ Für Cybermobbing und Cybergrooming (Anm. d. Red.: sexuell motivierter Kontakt zu Minderjährigen) öffne das Tür und Tor. Die digitale und echte Welt gehen dann ineinander über, wie ein weiteres Beispiel zeigt: „Da waren zwei Jungen, die wollten sich schlagen“, erzählt Martin Rieth. Statt sich aber auf dem Schulhof zu prügeln, verabreden sich die beiden per Nachricht nach der Schule, Prügeln nach Kalender quasi. „Das wissen alle anderen dann auch, kommen mit, feuern an und filmen.“ Auf Tiktok etwa verbreiten sich die Clips.
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„Hochproblematisch. Und durch Corona stark begünstigt“, beobachtet der Jugendkontaktbeamte. Über den kritischen Medienkonsum hinaus habe das Homeschooling die Entwicklung sozialer Kompetenzen gehemmt, „viele meiden die persönliche Konfrontation und weichen ins Digitale aus“. Die Kommunikation dort: hemmungsloser, dreister, roher.
Und doch scheint nicht alles schlecht zu sein, berichtet Martin Rieth. Die 16-Jährige, die sich ihm nach dem Missbrauchversuch durch ihren Onkel anvertraut hatte, konnte mit seiner Hilfe eine Anzeige stellen – es kam zu einem Prozess und schließlich auch zu einem Urteil. Ein Jahr später meldet sich die Jugendliche dann. „Per Mail“, sagt Rieth. „Sie hat mir gedankt. Das Erlebnis habe sie dank psychologischer Hilfe aufarbeiten können. Sie ist jetzt glücklich.“