Mülheim. Ihre Cousine wurde 2014 verschleppt. Wohin, weiß keiner. Wihad Suliman, die am Theater in Mülheim arbeitete, spricht über die Lage in Syrien.
Wihad Suliman (46) ist Autorin, sie studierte am Höheren Institut für Dramatische Künste in Damaskus (Syrien), war danach im Ausland tätig, interviewte viele geflüchtete Frauen und lebt aktuell in Essen. 2015 verbrachte sie ein halbes Jahr am Theater an der Ruhr. Dort wird am kommenden Sonntag, 12. Januar, um 18 Uhr auch ihr Theaterstück „Existenz“ gezeigt (2023 uraufgeführt). Es handelt vom Krieg in Syrien und von den fatalen Auswirkungen eines jeden Krieges auf den Einzelnen. Was sagt die Syrerin zu den jüngsten Ereignissen in ihrem Heimatland? Eröffnen sie die Chance auf Frieden?
Was denken Sie über die neue Situation in Syrien? Waren sie überrascht über den Sturz Assads?
Ich kann die aktuelle Lage in Syrien nur als einen großen Sieg beschreiben – eine Befreiung für alle Syrer. Der Sturz eines verbrecherischen Regimes, das das Land mehr als 50 Jahre lang regiert hat. Der Sturz Assads war für mich vorhersehbar. Ich hatte jedoch nicht erwartet, dass er jetzt und so schnell geschieht. Sturz und Flucht Assads bedeuten ein Ende des Krieges.. Die Syrer haben den Krieg nicht gewählt – Assad hat ihn gewählt, und zwar schon früh. Später holte er sich internationale Verbündete dazu, um Krieg gegen sein eigenes Volk zu führen. Mit dem Ziel, an der Macht zu bleiben. Ich bin voller Hoffnung und habe keinen Zweifel an der Fähigkeit der Syrer, ihr Land wieder aufzubauen.
Wird es Frieden geben unter den neuen politischen Führung (HTS)? Und Demokratie und Wahlen?
Es handelt sich um eine Übergangsregierung. Das bedeutet, dass sie begrenzte Aufgaben hat und nicht befugt ist, Entscheidungen im Namen des syrischen Volkes zu treffen. Die Etablierung eines demokratischen politischen Systems ist unser Hauptziel, dafür gab es die syrische Revolution. Ich sehe, dass derzeit alle Interessen darauf ausgerichtet sind, ein neues Syrien aufzubauen, und es ist selbstverständlich, dass es Wahlen geben wird.
Werden die neuen Machthaber Frauen, Minderheiten, Künstler und Menschen mit anderen Meinung tolerieren?
Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber bisher ist es das, was ich von den Menschen in Syrien höre. Die derzeitige Übergangsregierung bekräftigt in ihren Reden, die an die Syrer und die Welt gerichtet sind, dass sie die Rechte aller respektiert.
Stehen Sie mit Menschen in Syrien im Kontakt?
Ja, ich stehe in ständigem Kontakt mit meiner Familie in Syrien, alle Verwandten und viele Freunde sind immer noch dort. Sie haben unter Assad und dem Krieg gelitten. Sie erlebten große Entbehrungen, was ihre grundlegenden Lebens- und Menschenrechte anging, sowie einen völligen Mangel an Sicherheit. Über 13 Jahre hinweg mussten viele Syrer mehrmals innerhalb Syriens umziehen, um ihre Familien vor dem Krieg zu schützen – manchmal auch wegen der Kälte und des Ausfalls von Wasser und Strom. Dies führte zu einer erheblichen Verschlechterung ihres körperlichen und psychischen Zustands. Sie sind jetzt sehr glücklich über das Ende dieses Regimes Assad und begeistert von Syrien als einem zivilen, demokratischen Staat.
Das Schicksal von 150.000 Menschen in Syrien ist unbekannt
Es ist so viel zerstört in Syrien. Wie lange wird es dauern, alles aufzubauen - und auch alle Wunden zu heilen?
Der Wiederaufbau wird viel Zeit in Anspruch nehmen, insbesondere angesichts des großen wirtschaftlichen Niedergangs. Es ist eine enorme Herausforderung für jede zukünftige Regierung. Die Heilung der Wunden kann nur durch die Schaffung von Gerechtigkeit erfolgen. Das bedeutet, dass alle Beteiligten an den syrischen Blutverbrechen – allen voran Assad und seine Gefolgschaft – vor Gericht gestellt werden müssen. Ebenso muss das Schicksal der Verschwundenen aufgeklärt werden. Wir haben etwa 150.000 Menschen, deren Schicksal unbekannt ist. Sie wurden von verschiedenen Kräften verschleppt – in erster Linie vom Assad-.Regime, aber auch von ISIS und anderen Gruppen. Am 24. April 2014 hat ISIS meine Cousine aus einer Schule in der Stadt Raqqa entführt, wo sie als Lehrerin arbeitete. Seitdem haben wir keinerlei Informationen über sie.
Was denken Sie: Werden viele Flüchtlinge aus den Nachbarländern und Europe jetzt zurückkehren? In Deutschland haben sich viele Syrerinnen und Syrer relativ gut integriert.
Tatsächlich sind einige nach dem Sturz von Assad sofort nach Syrien zurückgekehrt, insbesondere aus den Nachbarländern. Sie besuchten ihre Stadt, um zu sehen, was von ihrem Haus übrig geblieben ist. Andere wollten sich nur davon überzeugen, dass das Assad-Regime gefallen ist und sie nun in Syrien sein können, ohne verhaftet zu werden. Aber die meisten von ihnen kehrten aus einem schmerzlicheren Grund zurück: um nach den Vermissten zu suchen. Ich stimme Ihnen zu: Die syrischen Flüchtlinge haben sich relativ gut in Deutschland integriert. Die Rückkehr ist jetzt mit vielen Komplikationen verbunden, auf jeden Fall sollte sie freiwillig und sicher sein.
Theaterautorin zeigt Stück in Mülheim: Immer noch interessant und relevant
Was brauchen die Menschen in Syrien jetzt? Wie können andere Ländern helfen?
Tatsächlich gibt es vieles, was die Syrer heute brauchen, aber an erster Stelle stehen die Suche nach Vermissten und die Behandlung der befreiten Gefangenen. Dies ist eine dringende humanitäre Angelegenheit. In den letzten Jahren haben sich syrische Organisationen damit schon Erfahrungen gesammelt. Aber die Frage ist: Welche Art von Unterstützung kann ihnen bei ihrer Aufgabe gewährt werden? Außerdem gibt es eine große Zahl von Gefangenen, darunter auch Frauen und Kinder, die jetzt freigelassen wurden, sie benötigen medizinische und psychologische Betreuung. Einige haben einen sehr schlechten Gesundheitszustand. Es gibt auch welche, die ihr Gedächtnis verloren haben. Außerdem gibt es viele Menschen, vor allem Ältere, die herumreisen, um nach ihren Kindern zu suchen, aber niemand kann ihnen unter den extrem schwierigen Lebensbedingungen helfen.
Wie ist es um die Gesundheitsversorgung bestellt?
Die Krankenhäuser in Syrien befinden sich in einem sehr schlechten Zustand, besonders nach den Sanktionen, die gegen das Assad-Regime verhängt wurden. Es gibt in Syrien auch einen erheblichen Mangel an Medikamenten, besonders für Krebspatienten und Menschen mit anderen chronischen Krankheiten.
Ihr Stück „Existenz“ zeigt die Konsequenzen des Krieges für Menschen drastisch auf...
Der Text „Existenz“ behandelt den Krieg und seine Folgen: den Verlust der Sicherheit, das Verlangen nach der Rückkehr zum normalen Leben, das Warten auf die Rückkehr einer Person, das Warten auf das Ende und den Beginn von etwas. Der Text greift auch Themen wie Mutterschaft, Stille, Enthüllungen, Verbrechen, Mord und Tod auf. In diesem Sinne finde ich das Stück weiterhin interessant und relevant, vielleicht sogar jetzt noch mehr als früher. Es könnte uns helfen, all das noch einmal zu überdenken. Ich hoffe, dass wir das Stück „Existenz“ bald in Syrien aufführen können. Ich möchte hier nochmal auf etwas hinweisen, das die syrische Kunst betrifft, die im Exil präsentiert wurde. Ihre kontinuierliche Produktion und ihre Darbietung und Verbreitung waren und sind sehr notwendig. In „Existenz“ gibt es weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende. Am Schluss bleibt der Text offen für viele Möglichkeiten. Wenn ich ihn nochmal schreiben würde, würde ich dieses Ende auch nicht ändern.
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