Mülheim. Über 40 Beschäftigte hatte die Mülheimer Lederwaren-Firma früher. Nun wickeln die hochbetagten Inhaber sie ab. „Wer kommt, kriegt es günstig.“
Der Tornister stammt aus den sechziger Jahren. Es sind keine Raumschiffe drauf in fetzigen Farben, keine Dinos und keine Unterwasserwelten. Nur das Motiv zweier fußballspielender Jungs, auf dickes Naturleder geprägt. Statt ausgeklügelten Trennfächern, Netzen und Spezialhalterungen: ein einziges, sperriges Innenfach. Statt ergonomisch durchdachter Brust- und Beckengurte: zwei harte Riemen für den Rücken.
Vorne: zwei Verschlüsse mit kleinen Reflektoren. „Die für Mädchen hatten nur einen“, sagt Elfriede Eichholz (85), die sehr viel über Ranzen und Taschen weiß. Der Tornister ist vor Jahrzehnten in ihrer Werkstatt entstanden: Lederwaren Eichholz an der Heerstraße in Mülheim. Sie hütet ihn als Erinnerungsstück und will ihn auch dann behalten, wenn es die Werkstatt im Hinterhof nicht mehr gibt.
- Die Lokalredaktion Mülheim ist auch bei WhatsApp! Abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Kanal: Hier geht‘s direkt zum Channel.
Lederwaren Eichholz in Mülheim wurde 1945 gegründet
Noch halten zwei alte Menschen den Betrieb im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufrecht. Elfriede Eichholz und ihr Ehemann. Heinrich Eichholz, auch Heinz genannt, ist jetzt 84 Jahre alt. Er bewegt sich so und hält seine rechte Hand wie ein Mensch, der einen Schlaganfall erlitten hat, und das hat er auch. Doch nicht erst in jüngster Zeit, sondern als relativ junger Mann, mit 38. Damals hatte das Paar bereits zwei Söhne. Und die Firma lief auf Hochtouren, mit einer zweiten Produktionsstätte für Kunststoffprodukte in der Eifel.
Im folgenden Jahr sei auch noch der Schwiegervater verstorben, der das Familienunternehmen 1945, direkt nach Kriegsende, gegründet und bis dahin geleitet hatte, erzählt Elfriede Eichholz. „Nach dem fürchterlichen Schlaganfall fiel mein Mann fast ein Jahr lang aus. Nach dem Tod meines Schwiegervaters war ich die Einzige, die die Leute führen musste.“
Schwierige Zeiten für die Familie nach Todesfall und Krankheit
Ursprünglich ausgebildete Verkäuferin (ihr Ehemann ist gelernter Kaufmann), arbeitete sie längst im Familienbetrieb mit, eignete sich das Handwerkliche und Betriebswirtschaftliche selber an. „Oft habe ich um Mitternacht noch gesessen und gebucht, wenn die Kinder im Bett waren“, erinnert sie sich an harte Zeiten. „Das war nicht schön.“ Ohne Unterstützung der Großmütter wäre es unmöglich gewesen.
Der Familie gehört das Wohnhaus an der Heerstraße 68, ebenso der langgezogene Anbau im Hinterhof, den sie zu besten Zeiten, in den siebziger, achtziger Jahren komplett mit ihrer Firma füllten. 40 bis 45 Leute hätten sie beschäftigt, sagt Elfriede Eichholz. Einen weiteren Produktionsstandort habe es im Dorf Nohn in der Vulkaneifel gegeben. In der Gegend hätten sie auch Abnehmer für ihre Waren gehabt. Darunter der Volksmusik-Sänger (und heutige Trump-Fan) Heino, der eine Aktentasche aus Naturleder bei ihnen bestellt und bekommen habe. Wann war das? Elfriede Eichholz schaut fragend hinüber zu ihrem Mann: „Ach du lieber Gott...“
Mülheimer Firma hatte zeitweise mehr als 40 Beschäftigte
Die Jahrzehnte verflogen. Die lukrativen Zeiten, in denen Eichholz etwa die Metro belieferten, sind lange vorbei. Mülheimer Gerbereien und Lederfabriken, wie Hammann oder Lindgens, gibt es längst nicht mehr. Ab Ende der achtziger Jahren hätten sie Mitarbeitende entlassen müssen, sagt Elfriede Eichholz. Bis 2009 sei der Betrieb noch regulär weitergelaufen: Sie, ihr Mann und ein verbliebenes kleines Team. „Und jetzt sind nur noch wir da.“
Heute sind große Teile der Hinterhofflächen vermietet, unter anderem an eine Sanitärfirma und eine Fotografin. Lederwerkstatt plus Lager sind auf wenige Räume geschrumpft: Näh-, Stanz-, Niet- und Schärfmaschinen wurden eng zusammengeschoben. Einige haben vermutlich Museumswert. Etliche Macken im Linoleum der Tischplatten zeugen von Jahrzehnten handwerklicher Arbeit. Die Werkstatt ist gefüllt mit Kisten und Dosen, abgenutzten Werkzeugen, Lederresten, Ledergeruch. Zweimal wöchentlich öffnet sie noch, für einige Stunden.
Mülheimer Lederwerkstatt übernimmt immer noch Reparaturen
Die alten Leute, fünffache Großeltern, beide Mitte 80, reparieren und verkaufen ab. „Manchmal schicken Schuster Kunden zu uns“, sagt Elfriede Eichholz, „denn sie haben solche Maschinen nicht.“ Zwei Handtaschen sind ausgebessert und warten darauf, abgeholt zu werden, ebenso ein schwarzer Rucksack. Reparaturen haben ihren Preis, wie beim Schuhmacher. „25 Euro“ oder „40 Euro“ steht auf handgeschriebenen Zetteln, die sie in die abholbereiten Taschen gesteckt haben.
Häufiger erleben Elfriede und Heinz Eichholz allerdings, dass Kunden ihre Sachen einfach bei ihnen lassen, vielleicht vergessen. „Das ist natürlich ärgerlich“, denn Material und Arbeit stecken ja schon drin. Es geschieht aber auch, dass Kunden den uralten Familienbetrieb ganz neu entdecken.
Kunde aus Mülheim entdeckte den Betrieb jetzt erst und kaufte eine Tasche
Wie der Broicher Frank Hoffmann, dessen Hobby Motorradfahren ist. Er sei bei seinen Touren immer mit einer Umhängetasche im Din-A5-Format unterwegs, die schon reichlich abgenutzt warerzählt er. Nirgendwo habe er etwas Passendes bekommen, dann aber einen Tipp seiner Schneiderin: „Gehen Sie doch mal zu Herrn Eichholz.“ Er ging.
„Ich habe bei ihm eine wunderbare Tasche gefunden“, sagt Hoffmann, „genau in der Größe, die ich mir gewünscht habe.“ Und zugleich hat ihn der hochbetagte Handwerker beeindruckt, der - weit über achtzigjährig - immer noch in seiner Werkstatt sitzt: „Repräsentant eines aussterbenden Standes“. Zeitzeuge der großen Mülheimer Ledertradition.
Abverkauf an der Mülheimer Heerstraße läuft
Längst läuft der letzte Abverkauf. Die Regale bei Lederwaren Eichholz sind noch gut gefüllt mit Akten- und Umhängetaschen jeder Größe, Rucksäcken, Collegemappen, Köfferchen. Heinz und Elfriede Eichholz wollen aufhören, sagen sie, „aber wir möchten unsere Ware nicht wegschmeißen. Wer kommt, kriegt sie günstig.“
Auf einen Schließungstermin legen sie sich nicht fest. Für Elfriede Eichholz ist nur klar: „Irgendwann muss Schluss sein. Es lohnt sich schon lange nicht mehr.“ Der alte Schulranzen ist allerdings unverkäuflich.
Lederwaren Eichholz, Heerstraße 68 (Hinterhof), Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag 10 bis 15 Uhr (möglichst vorher anrufen: 0172-8181999).
Handwerk und Handel in Mülheim - lesen Sie auch
- Lokalschatz: Warum diese Mülheimer Künstlerin so beliebt ist
- Zu Besuch in einer großen Weihnachtsbäckerei des Ruhrgebiets
- Mein schönster Laden: „Kaufbar“ bietet Dekoratives zum Kaffee
- Mittelalter-Tag: Was ist denn eine „Bruche“?
- Seltene Berufe: Was macht eigentlich eine Vergolderin?
Bleiben Sie in Mülheim auf dem Laufenden!
>> Alle Nachrichten aus Mülheim lesen Sie hier. +++ Abonnieren Sie kostenlos unseren Newsletter per Mail oder Whatsapp! +++ Hier kommen Sie zu unseren Schwerpunktseiten Wohnen, Gastronomie, Handel/Einkaufen und Blaulicht. +++ Zu unserem Freizeitkalender geht es hier. Legen Sie sich doch einen Favoriten-Link an, um kein Event zu verpassen! +++ Lokale Nachrichten direkt auf dem Smartphone: Laden Sie sich unsere News-App herunter (Android-Version, Apple-Version).