Herne. Lehrer Ulrich Kind (65) machte seinen Job zur Berufung. Er entwickelte ein Schulfach, mit dem er Geschichte machte. Nun tritt er in Ruhestand.
Das neue Schuljahr startet ohne ihn: Nach 29 Jahren an der Erich-Fried-Gesamtschule in Herne ist Ulrich Kind in den Ruhestand getreten. Der 65-Jährige hat 1997 ein neues Schulfach erfunden: „Kohlengräberland“. Nun blickt der Bochumer auf eine ereignisreiche Zeit als Lehrer zurück – und in die Zukunft.
Als Wahlpflichtfach konnten Schülerinnen und Schüler der Erich-Fried-Gesamtschule in Holsterhausen ab der achten Klasse für zwei bis drei Jahre das „Kohlengräberland“ wählen. Ein Fach, das Ulrich Kind entwickelt und über Jahre mit Isabell Tappenhölter weiterentwickelt hat. Das Besondere: Einen vorgeschriebenen Lehrplan gab es nicht. Als Unterrichtsmaterial dienten nicht Schulbücher, sondern aktuelle Ereignisse und Beobachtungen der Jugendlichen. Lehrort war nicht das Klassenzimmer, sondern das waren Originalschauplätze der Geschichte. In 26 Jahren, erzählt er, seien über 1000 Jugendliche in dieser Projektwerkstatt auf eine historische Spurensuche gegangen.
„ Was interessiert mich Berlin. Hier ist genug in Bochum-Gerthe und Herne-Holsterhausen passiert, was nicht in den Geschichtsbüchern steht, die in der Schule gelesen werden.“
„Wir haben nicht Unterricht gespielt, sondern gemacht“, betont Kind, der nicht nur das Fach „Kohlengräberland“, sondern auch Deutsch und Gesellschaftslehre unterrichtete. Im Lehralltag, wenige Jahre nach Ende seines Studiums, habe er Geschichte für sich entdeckt. Jedoch nicht jene, die sich auf nationaler und internationaler Bühne abgespielt hat. „Was interessiert mich Berlin. Hier ist genug in Bochum-Gerthe und Herne-Holsterhausen passiert, was nicht in den Geschichtsbüchern steht, die in der Schule gelesen werden“, sagt Kind und betont: „Alles, was in der Welt passiert, passiert auch in Holsterhausen.“
Ruhrgebiet: „Keiner kommt von hier“
Angefangen habe er sein Projektfach unter dem Namen „Ruhrgebiet vor Ort“. Es sollte die Bergbau- und Arbeitergeschichte des Ruhrgebiets aufgreifen. „Wir befinden uns mit dem Ruhrgebiet in einem Schmelztiegel, in dem viel passiert ist.“ Ein Fundus für den Geschichtsunterricht, findet Kind. Bald folgten Erinnerungs- und Gedenkarbeit.
Jeder neue Kurs begann mit der eigenen Familiengeschichte und der Frage, wo komme ich eigentlich her? Unter dem Namen „Keiner kommt von hier“ recherchierten die Jugendlichen ihren Stammbaum, wodurch die Migrationsgeschichte des Ruhrgebiets verdeutlicht werden sollte. Im Laufe des Fachs erforschten sie Geschichten anderer Menschen, gingen in das Stadtarchiv und auf Exkursionen, diskutierten mit Expertinnen und Experten und organisierten Zeitzeugen-Gespräche.
„Ich habe dort genauso viel gelernt, wie die Schülerinnen und Schüler und wusste genauso wenig, was auf mich zukommt.“
Sie setzten sich für den Erhalt der Kriegsgräber in Bochum-Gerthe ein. Rekonstruierten die Geschichte jüdischer Kaufleute und verlegten Stolpersteine für die Opfer der Shoah oder spürten nach, was es mit gefundenen Fliegerbomben auf sich hat. Kind schaffte den Rahmen für das Fach, inhaltlich wurde es von den Jugendlichen gestaltet. „Ich habe dort genauso viel gelernt, wie die Schülerinnen und Schüler und wusste genauso wenig, was auf mich zukommt.“ Und dafür wurde das Projekt mehrfach ausgezeichnet: mit rund 20 Bundes- und Landespreisen.
Theaterprojekte „Viele Grüße Ingrid“
Von Beginn an ist das Geschichtsprojekt eng mit Musik und Theater verzahnt. Denn Kind ist auch Theaterpädagoge und spielt Klavier. So ist das Theaterstück „Viele Grüße Ingrid“ entstanden, das die Jugendlichen in der Kirche in Bochum-Gerthe aufgeführt haben. Es ist die Geschichte eines Kindes, Ingrid, das im Krieg durch einen Bombenangriff ums Leben kommt. „Als sie mit ihrer Freundin nach der Hitlerjugend zum Schuster wollte, ist eine Bombe explodiert. Sie sind die ersten Bombenopfer in Gerthe.“
Um die Geschichte der Freundinnen und ihre Gespräche authentisch erzählen zu können, hat die Gruppe recherchiert, was zu der Zeit in den Kinos lief, was sie gehört und gedacht haben könnten. Aus persönlichen Geschichten und Sachinformationen aus Archiven ist innerhalb weniger Wochen ein Theaterstück entstanden.
Danach kam ein Stein ins Rollen, denn im Publikum saßen Menschen, die die Zeit selber noch miterlebt hatten. Auf Initiative einer Schülerin habe der Kurs dann angefangen, ihre Lebensgeschichten nachzuverfolgen. „Man kann jede Menge herausfinden, man muss nur durchhalten“, sagt Kind.
Zeitzeugen-Gespräche in der Aula der Gesamtschule in Herne
Seit 2013 organisierte der Kurs Zeitzeugen-Gespräche in der Aula der Gesamtschule. Senioren und Seniorinnen erzählten von ihrem Aufwachsen zur Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges, Shoah-Überlebende von ihrer Flucht vor dem sicheren Tod und dem Leben im Untergrund, Bergleute von ihren Erlebnissen bei der Arbeit „unter Tage“. Eine ehemalige Kind-Schülerin aus Syrien, die den Krieg hautnah miterlebt hat, sagte nach einem dieser Gespräche. „Ich habe heute gelernt, dass ich das, was ich erlebt habe, nicht vergessen werde, bis ich 85 Jahre alt in“, erinnert sich Kind an ihre Worte.
„Und plötzlich wird das, was du als Theaterstück in der Schule angefangen hast, Realität und während du singst, schaust du in die Gesichter der Familie, die das Ganze miterlebt hat“, sagt Kind über die Recherche der Geschichte der jüdischen Kaufmannsfamilie Müntz aus Bochum-Gerthe, die in letzter Sekunde durch die Kindertransporte überlebt hatte. Der Kurs organisierte eine Stolpersteinverlegung und Gedenkveranstaltung, zu denen die ganze Familie Müntz, die mittlerweile in der Welt verstreut lebt, in jenes Land gekommen ist, das sie nie wieder betreten wollten.
„Ihr habt die Stolpersteine nicht nur auf die Straße gelegt, wo unsere Familie gewohnt hat, sondern in unsere Herzen und dafür gesorgt, dass wir uns zum ersten Mal sehen“, erinnert sich Kind an die Worte eines Familienmitglieds. Denn ein Großteil der Nachkommen von Lea und Bertha Müntz habe sich vorher nicht gekannt.
Neuer Name „Spurensuche“: „Ich höre nicht auf“
Nach über einem Vierteljahrhundert folgen Ulrich Kind die Kolleginnen Anna Ertugrul und Lena Baltes, die das Fach unter dem neuen Namen „Spurensuche“ weiterführen werden. Erhalten bleiben sollen zwei Kernbausteine: die Shoah-Gedenkfeier zum 9. November sowie die Zeitzeugen-Gespräche.
Und Ulrich Kind? „Ich höre nicht auf“, antwortet er bestimmt auf die Frage, was im Ruhestand folgt. Vielleicht auch die verzögerte Antwort auf die Worte einer Zeitzeugin nach einem Gedenkkonzert: „Nicht aufhören, einfach weitermachen.“ Den Namen „Kohlengräberland“ nehme er mit. „Das ist mein Rentenprojekt“, sagt er über die Homepage www.kohlengraeberland.de, die er weiter mit den Erkenntnissen der vergangenen Jahrzehnte füllen möchte. Noch immer gebe es riesige Löcher in der Geschichte des Ruhrgebiets. „Es melden sich immer weitere Menschen, die ihre Geschichte erzählen wollen. Jetzt ist aber erst einmal mein Garten dran.“