Herne. .

Ab Klasse acht können Schülerinnen und Schüler der Erich-Fried-Gesamtschule ein ungewöhnliches Unterrichtsfach wählen: „Kohlengräberland“.

Ulrich Kind, Lehrer an der Erich-Fried-Gesamtschule, tippt einem Schüler auf die Schulter. Dieser steht auf, geht an den Stuhlreihen vorbei zur Bühne. Er steigt die Stufen hinauf, dreht sich zum Publikum. Nervös zupft er an seinem Pulli und sagt: „Meine Großeltern kommen aus einem Dorf in der Türkei.“

Die letzten Worte sind für seine Mitschüler im Publikum kaum verständlich. Viel zu leise hat er gesprochen. Gemeinsam mit dem Kurs werden noch einmal die wichtigen Punkte für einen Auftritt besprochen. „Schon der Gang zur Bühne gehört dazu“, erinnert Lehrerin Isa Tappenhölter. „Wenn ihr steht, denkt an die Pause“, ergänzt ihr Kollege, „21, 22, dann erst wird gesprochen.“

Der Schüler versucht es erneut. Noch immer wirkt er nervös. Kind hält ihm den „Spiegel“ vor und imitiert seine Unsicherheit. Beim dritten Versuch schließlich klappt es. Mit fester Stimme erzählt der Neuntklässler, woher seine Großeltern kommen und setzt sich anschließend auf einen Tisch. Er selbst ist nun nur noch Teil der Kulisse. Der nächste ist an der Reihe.

29 Schüler der Jahrgangsstufe neun an der Erich-Fried-Gesamtschule (EFG) sitzen in der Aula. Die beiden Kursleiter Isa Tappenhölter und Ulrich Kind unterrichten sie in dem Fach „Kohlengräberland“ – in Deutschland einzigartig. Das theaterpädagogische Projekt ist eines von fünf Wahlpflichtfächern, das die EFG-Schüler von der achten bis zur zehnten Klasse belegen. Entscheiden müssen sie sich zwischen dem Kohlenpott-Kurs, Informatik, Pädagogik, Berufsvorbereitung und Latein. Zwei Wochenstunden stehen dann auf ihrem Stundenplan.

In diesem ungewöhnlichen Fach setzen sich die Schüler mit dem Ruhrgebiet auseinander – lernen Menschen, Geschichte, aktuelle Gegebenheiten, sich selbst und ihre Wurzeln kennen. Ihre Erfahrungen präsentieren sie später auf der Bühne. In diesem Schuljahr arbeiten sie jahrgangsübergreifend zum Thema „Keiner kommt von hier“.

Was den meisten zunächst gar nicht bewusst ist, kristallisiert sich während der ersten Gehversuche auf der Bühne schnell heraus: Leipzig, Polen, Italien, Ostpreußen, Nordhorn, Lettland – Urgroßeltern, Großeltern und Eltern kommen von überall her, nur meistens nicht aus Herne. Kaum einer hat Vorfahren, die tatsächlich aus dem Ruhrgebiet stammen. Fast entschuldigend klingt es, wenn einer der Schüler auf die Bühne kommt und sagt: „Meine Großeltern kommen tatsächlich hier her.“

Kohlengräberland wird an der EFG seit fast 13 Jahren unterrichtet. Ursprünglich bot Erdkunde- und Geschichtslehrer Kind einen Kurs zum Thema „Ruhrgebiet vor Ort“ an. Seine Kollegin Tappenhölter kümmerte sich um Theaterarbeit. Gemeinsam mit anderen Lehrern arbeiteten beide an einem großen Theaterprojekt gegen Rechtsextremismus. „Damals kam uns dann die Idee, ein Filmprojekt zu installieren und alles, was wir für die Bühne erarbeiten, zu filmen und festzuhalten“, erzählt Isa Tappenhölter, wie es zur Einrichtung des Fachs Kohlengräberland kam.

Wichtig ist der Englisch- und Politiklehrerin, „dass die Schüler etwas lernen, das sie auch außerhalb der Schule weiterbringt. Wie jemand, der sich sonst nie traut, etwas zu sagen, plötzlich selbstbewusst auf Leute zugehen kann“, erinnert sie sich an eine ehemalige „Kohlengräberin“. Und auch Ulrich Kind hat einen Wunsch: „Dass die Leute hier bleiben und das Ruhrgebiet – ihre Heimat – bunt machen.“