Herne. „Das geht gar nicht“, würde man heute sagen: Doch früher zogen Kleinwüchsige, dicke Frauen oder dressierte Affen die Massen auf der Kirmes an.
Ponyreiten auf der Cranger Kirmes? Seit Jahren undenkbar. Das würde heute wohl auch heftigen Protest von Tierschützern entfachen - siehe Weihnachtszauber vor wenigen Jahren. Das offenbart: Einige Angebote aus der Vergangenheit haben heutzutage keine Chance mehr auf Crange, weil sie politisch völlig unkorrekt wären. In früheren Jahren war das Feingefühl geringer ausgeprägt. Eine kleine Auswahl.
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Es gibt ja seit einiger Zeit den Begriff des „Body Shamings“. Er bedeutet, dass Menschen wegen ihres Aussehens beleidigt und gedemütigt werden. Vor rund 100 Jahren waren solche Menschen auf der Kirmes eine Attraktion. In den 1920er-Jahren gehörten Abnormitätenschauen zum festen Programm von Crange, wie Annette Krus-Bonazza in ihrem 1992 erschienenen Buch „Auf Canger Kirmes“ beschreibt. So war 1929 eine Bude mit dem Titel „Das muß man gesehen“ zu Gast, die damit lockte, die dicksten Frauen der Welt zu präsentieren. Auch „Kraftjungfrauen“ mit viel Muskeln gehörten zum Ensemble. Ein Jahr später trat das angeblich dickste Geschwisterpaar Deutschlands in Crange auf.
Die angeblich dicksten Frauen der Welt als Kirmes-Attraktion
„Für das Vorführen extrem übergewichtiger Menschen, die bis zum Zweiten Weltkrieg zu den gängigen Volksfestattraktionen gehörten, warben die Schaubudenbesitzer in Crange, indem sie zum Beispiel ein Nachthemd oder einen Schlüpfer der betreffenden Person außerhalb der Schaubude aufhängten“, schreibt Krus-Bonazza.
Gut besucht war im Kirmesjahr 1926 wohl auch ein Liliputanerzirkus, in dem eine ganze Truppe dieser kleinen Menschen ihre Künste zum Besten gab. Diese Schau hielt sich erstaunlich lange als Attraktion, noch in den 60er-Jahren standen die Menschen vor Schneiders Circus-Revue mit kleinwüchsigen Menschen Schlange. Eine andere Bude versprach den Besuchern ein „Zwerg-Eskimo-Ehepaar“ aus Grönland.
Manche körperlichen Abnormitäten waren allerdings auch nur das Ergebnis von Illusionstricks, wie die Frau ohne Unterleib oder eine Frau mit zwei Köpfen.
Und in der Vergangenheit war das Vorführen von Tieren völlig normal. So war Hagenbecks Tierschau über Jahre regelmäßig zu Gast auf der Cranger Kirmes, 1930 gab es eine große Schlangenschau, auch Krokodilschauen oder dressierte Schimpansen und Ratten galten überhaupt nicht als Tierquälerei. Im Zirkus Schickler konnten sich Zuschauer melden und gegen einen dressierten Bären kämpfen.
Sinti und Roma waren im 19. Jahrhundert ein „Charakteristikum“ auf Crange
Ein völlig anderes Kapitel in der Vergangenheit waren Sinti und Roma auf der Cranger Kirmes. Verschiedene Quellen offenbaren, dass sie im 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil und „Charakteristikum“ des Volksfests waren und diese „Zigeuner“ für die Besucherinnen und Besucher Anziehungskraft hatten. Krus-Bonazza zitiert die Wanner Zeitung, die im Jahr 1912 bedauert, dass von den „Zigeunern“ als „Charakteristikum der Cranger Kirmes“ in jenem Jahr wenige - „nur ein Wagen Zigeuner mit circa zehn Personen war angefahren“ - vertreten seien. Allerdings zeigen Zeitzeugenberichte, dass es trotz der Faszination eine eher ablehnende Haltung in der Bevölkerung gab. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschwanden die Sinti und Roma von der Cranger Kirmes.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte sich eine Entwicklung, die bereits vorher eingesetzt hatte: Die Kirmes wurde immer stärker technisiert, Fahrgeschäfte unter dem Motto „höher, schneller, wilder“ gewannen immer mehr an Bedeutung. Dennoch hielten sich noch eine Zeit lang klassische Schaubuden. „Als herausragendste Attraktion des ersten Nachkriegsjahrzehnts galt die fast alljährlich auf dem Cranger Festplatz errichtete, europaweitbekannte, Liliputstadt unter der Regie von Heinrich Schäfer. Die Stadt en miniature, die 1951 etwa 3200 Quadratmeter des Kirmesplatzes bedeckte, bestand aus einem Rathaus, einem Postamt, einer Polizeiwache und Bars. Dazu gehörte ein Zirkus, in dem die meisten der 84, zwischen 83 Zentimeter und 1,12 Meter kleinen ,Einwohner’ als Akrobaten, Clowns, Tänzerinnen oder Musiker arbeiteten“, schreibt Krus-Bonazza in ihrem Buch.
Und weiter heißt es. „Die Kirmesorganisatoren verzichteten zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Regel auf die Präsentation menschlicher Abnormitäten und lehnten laut Westfälischer Rundschau das Angebot eines Schaustellers, auf der Cranger Kirmes siamesische Zwillinge zur Schau zustellen, im Jahre 1953 entrüstet ab, die Anwesenheit von Kleinwüchsigen hielten sie aber offenbar für ethisch vertretbar.
Die 60er-Jahre brachten Striptease
In den 60er-Jahren nahm die sexuelle Revolution ihren Anfang - und Schausteller auf Crange reagierten darauf: 1963 und 1965 präsentierte Karl Lemoine in seiner neuen Schaubude „Scala“ bzw. „Non-Stop-Show“ ein Varieté-Programm. Neben Zaubervorstellungen, Messertricks und einem „Kautschuk-Mädchen“ war ein professionell dargebotener Striptease die Hauptattraktion. Andere Schausteller zogen nach, sodass Mitarbeiter des Jugend- und Ordnungsamts die Darbietungen auf eine eventuelle Jugendgefährdung hin prüften.