Herne. Der Sodinger Weltkriegsbunker ist ein Mahnmal aus vergangenen Zeiten. Zwei Zeitzeuginnen aus Herne berichten von ihrer Kindheit im Bunker.
„Hier“, verkündet Rosemarie Ostkamp ohne jeden Zweifel in der Stimme und bleibt vor einer geöffneten Tür stehen. In dem Raum, der sich hinter der Schwelle auftut, wurde an einem Sonntag im November 1944 ihr Bruder geboren. Mitten im Krieg, hinter meterdicken Betonwänden, während draußen Bombenalarm herrschte. Auch Jahrzehnte später erinnert sich die heute 86-Jährige noch allzu gut an diesen Tag. „Meine Mutter bekam ein Bett an der einen Wand, ich an der anderen“, erzählt sie. „Es war schrecklich, aber ich habe gespurt. Man brauchte mich nur anzutippen, und ich stand stramm.“
Jahrgang 1935, gehört Rosemarie Ostkamp zu der Generation, die ihre Kindheit an den Krieg verloren hat. Ihre Familie stammt aus Herne-Sodingen, hat früher an der Mont-Cenis-Straße direkt gegenüber vom Hochbunker gewohnt. „Wenn dann Fliegeralarm kam, sind wir andauernd gerannt - vom fünften Stock runter in den Bunker.“ Mit den großen Fensterfronten und eingerahmt von Baugerüsten ist dieser heute kaum wiederzuerkennen. Seit 2020 wird der ehemalige Schutzbau zum „We-House“ umgebaut. Noch sind die Arbeiten an dem innovativen Wohnprojekt nicht beendet. Doch schon jetzt dient der Raum im ersten Stock, in dem Rosemarie Ostkamp als Neunjährige die Geburt ihres Bruders miterlebt hat, einem Pärchen als Wohn- und Esszimmer.
„Hatte immer Angst“: Herner Zeitzeugin berichtet
„Früher war es hier nur kalt und dunkel.“ Christel Sindermann steht in einer der 25 Wohnungen, die der ehemalige Bunker heute beherbergt und blickt sich aufmerksam um. „Ich konnte mir das nie vorstellen, im Bunker zu wohnen“, sagt die 83-Jährige. „Aber so, wie es hier jetzt aussieht, kann ich es verstehen.“ Gemeint sind die großzügigen Fenster, der Holzfußboden und die gemütliche Einrichtung, die den unverputzten Betonwänden ihre Härte zu nehmen scheinen. „Es riecht auch gar nicht mehr nach Bunker“, bemerkt die Sodingerin. Wie ihre Bekannte Rosemarie Ostkamp hat auch sie als junges Mädchen in Kriegstagen viele Stunden hier verbracht.
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„Wenn man reinkam, musste man sich einen Platz suchen. Oft war alles besetzt, da wussten wir gar nicht, wohin.“ Viele Menschen von außerhalb blieben tagelang im Bunker, erzählt Christel Sindermann. Sie selbst sei mit ihrer Familie meist in einem großen Raum im Erdgeschoss untergebracht gewesen, den es heute so nicht mehr gibt. Nur, wenn dort kein Platz mehr war, suchten Sindermanns im Keller ihres Hauses in der Gerther Straße Schutz. „Meine Mutter hat mir damals einen kleinen Rucksack genäht, und da waren alle notwendigen Sachen drin“, erinnert sich die gelernte Herrenschneiderin. „Wenn Alarm war, hieß es: Order, anziehen, laufen. So sind wir groß geworden.“ Es mache ihr nichts aus, über diese „Überlebenserinnerungen“ zu sprechen. Aber sie sagt auch: „Als Kind hatte ich immer Angst.“
Viele Säuglinge in Herne starben an rätselhafter Krankheit
Anders als Christel Sindermann, die bei verschiedenen Gelegenheiten über die Jahre immer mal wieder im Bunker gewesen ist, hat Rosemarie Ostkamp das Gebäude nicht mehr betreten, seit ihr Bruder dort zur Welt kam. Denn danach habe sich ihr Vater geweigert, in den Bunker zu gehen und sich lieber mit der Familie im Keller versteckt. Zu groß war die Angst vor der rätselhaften „Bunkerkrankheit“, an der in den Jahren 1943 und 1944 zahlreiche Säuglinge erkrankten. Eine von Rosemarie Ostkamps Nichten fiel der Krankheit zum Opfer. Auch Sindermanns jüngerer Bruder litt darunter, doch er überlebte.
Was hinter der „Bunkerkrankheit“ steckte, erfuhr die 83-Jährige erst vor wenigen Jahren durch eine Bekannte. Seinen Ursprung nahm das Leiden mutmaßlich im alten Treppenhaus im Riegel, dem hinteren Teil des Bunkers, der nachträglich angebaut wurde. Hier kamen die Mütter mit ihren Kinderwagen unter, wenn sie sich bei Alarm in den Bunker flüchteten. „Das musste alles schnell gehen“, berichtet Christel Sindermann und weist auf den Betonfußboden. „Und da der Boden noch nicht richtig fest war, wurde bei dem ganzen Verkehr Steinstaub aufgewirbelt.“ Das habe bei den Säuglingen Lungenentzündungen ausgelöst. „Unser Friedhof war voll von Kindergräbern - es war eine ganz traurige Zeit.“
Neue Bewohner wollen Bunkergeschichte aufarbeiten
Wie der Ursprung der „Bunkerkrankheit“ gibt auch die sonstige Geschichte des Sodinger Hochbunkers das ein oder andere Rätsel auf. Kaum etwas ist über seinen Bau oder seine Nutzung während und nach dem Krieg bekannt. „Wir gehen davon aus, dass viele Unterlagen im Krieg zerstört wurden“, so Bewohnerin Cornelia Schulz. Unklar sei zum Beispiel auch, ob beim Bau Zwangsarbeiter beschäftigt waren. „Für uns ist die historische Aufarbeitung wichtig“, betont Schulz’ Nachbarin Petra Faryar. „Wir möchten uns mit der Geschichte des Hauses auseinandersetzen.“ Ihr persönlicher Traum sei eine historische Tafel am Eingang, daran werde bereits gearbeitet.
An den Gedanken, in einem ehemaligen Bunker zu leben, haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner längst gewöhnt. „Es ist schön, dass dem Gebäude als ungenutzter Bausubstanz wieder Leben eingehaucht wird“, findet Franziska Adams, die gerade erst eine Wohnung im Turm bezogen hat. „Die Gemeinschaft, die vielen Kinder, das findet man in keinem Mietshaus“, stimmt Petra Faryar zu. „Es ist immer Leben hier, das ist einfach schön.“ Der Meinung sind auch Rosemarie Ostkamp und Christel Sindermann. So wie ihnen damals solle es den Generationen, die nachkommen, nicht mehr gehen müssen.