Gelsenkirchen. 300 unentdeckte Todesfälle in der Stadt: Isolation wird zu einem immer größeren Problem. Was diese beiden Gelsenkirchener dagegen tun wollen:

Ein Mensch stirbt in seinem Zuhause, sein Tod wird von niemandem bemerkt – weil es da nicht einen einzigen Menschen mehr gibt, dem es auffallen könnte. Pro Jahr gibt es in Gelsenkirchen 300 unentdeckte Todesfälle. Einsamkeit und Isolation werden zu einem immer ernsteren (Gesundheits-)Problem, noch zu wenig wahrgenommen von der Gesellschaft. Doris Himmelreich und Olaf Steude wollen das nicht länger hinnehmen, sondern etwas bewirken, mit ihrem Tun gegensteuern. Es ist die ganz bewusste Entscheidung beider: Die zwei Gelsenkirchener engagieren sich demnächst ehrenamtlich bei dem Projekt „Q.Vision! – von Mensch zu Mensch“.

Einsamkeit und Isolation in Gelsenkirchen: Das könnte Betroffenen helfen

Worum es geht, ist einfach erklärt: Mithilfe von Q.Vision sollen einsame und sozial isolierte Menschen und Personengruppen angesprochen werden. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in einem vorher abgesteckten Projektgebiet mit einem Radius von 500 Metern rund um das Alfred-Zingler-Haus herum die Betroffenen ansprechen. Zunächst soll allerdings eine Befragung per Fragebogen erste Anhaltspunkte zu aktuell bestehenden Bedarfen geben – sind die einmal bekannt, erfolgt dann eben die gezielte Ansprache und daraus entstehen später passend ausgearbeitete Angebote für Betroffene, die im Alfred-Zingler-Haus stattfinden sollen.

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„Wie andere innerstädtische Quartiere Gelsenkirchens, sieht sich auch das Gebiet um das Alfred-Zingler-Haus permanent vor große Herausforderungen in Bezug auf ein gutes und stabiles soziales Miteinander gestellt“, heißt es seitens der Projektverantwortlichen. Und weiter: „Der Raum ist dicht besiedelt und durch eine hohe Diversität seiner Bewohnerschaft gekennzeichnet. Unterschiedlichste Ansprüche an das Alltagsleben existieren hier nebeneinander und leiten sich her aus verschiedenen Haushaltsformen, aus vielfältigen kulturellen Hintergründen und individuellen Lebenssituationen.“ Es gibt viele Facetten von Einsamkeit in der Emscherstadt – und längst ist sie nicht nur in einer Altersgruppe zu finden.

Doris Himmelreich, 84 Jahre alt, pensionierte Lehrerin, lebt seit fast einem halben Jahrhundert in dem Quartier rund um das Alfred-Zingler-Haus in Bulmke-Hüllen. In genau diesem Viertel will sie auch arbeiten, auf die Menschen zugehen, sie herausholen aus der Isolation. Ihr Antrieb? „Dass ich Menschen helfen möchte, wieder normal zu leben und teilzunehmen, und sich nicht nur zurückzuziehen.“

Nicht den Anschluss verlieren: Gelsenkirchener Projekt soll Einsame zurückholen

Doris Himmelreich ist eine aktive Frau, hat sich zeitlebens interessiert und engagiert, zunächst als Lehrerin unter anderem und zuletzt an der Förderschule an der Malteserstraße. Sie hat sogar bis 67 gearbeitet, das muss man sich einmal vorstellen. Als sie „endlich/leider“ pensioniert wurde, wie sie es nennt, findet sie schnell Beschäftigung, so im Ehrenamt, aber auch bei den „Bucheckern“, den Vorleserinnen des Consol Theaters. Ihren Mann hat sie bereits vor vielen Jahren verloren, ihre erwachsene Tochter lebt weiter weg. Und doch: Einsam fühlte sie sich nie – „weil ich immer irgendwas zu tun hatte“.

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Freundschaften pflegt sie gut und gerne, mittlerweile seien viele ihrer Freunde aber bedauerlicherweise verstorben. Sie wohnt in einem Haus, in dem neben ihr viele ältere Menschen leben. Ihr ist aufgefallen: „Viele von ihnen sind damals vor vielen Jahren mit uns eingezogen. Die sehe ich heute kaum noch.“ Und auch das: Einige hätten sich völlig zurückgezogen in ihre eigenen vier Wände, oftmals sei der tägliche Gang zum Briefkasten der einzige Grund, die Wohnungen zu verlassen. „Wenn man irgendwo den Anschluss verliert, dann ist es ganz wichtig, dass es so ein Projekt wie dieses gibt“, findet Doris Himmelreich.

„Männer outen sich seltener, Isolation wird nicht nach außen getragen.“

Den Anschluss verlieren, das wäre beinahe auch Olaf Steude passiert. Der 55-Jährige spricht mit der WAZ ganz offen über sein Leben, der examinierte Altenpfleger ist aktuell arbeitslos, eine schwere Krankheit warf ihn aus dem Erwerbsleben. Er war verheiratet, hat zwei Kinder, ist mittlerweile geschieden. Dass er immer mehr vereinsamte, war für ihn mit Scham behaftet. Olaf Steude ist überzeugt: „Männer outen sich seltener, Isolation wird nicht nach außen getragen.“ Wenn er damals nicht etwas gefunden hätte, dass seinem Leben wieder einen Sinn gegeben hätte (beispielsweise sein ehrenamtliches Engagement), er wüsste nicht, wo er heute wäre.

Projektkoordinator Andreas Browa: „Das hier ist kein Therapieprogramm, jeder muss sich einbringen.“
Projektkoordinator Andreas Browa: „Das hier ist kein Therapieprogramm, jeder muss sich einbringen.“ © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Olaf Steude ist – auch aus ganz persönlicher Erfahrung – überzeugt: „Du musst eine Struktur, eine Aufgabe haben“, sagt er. Und: „Es ist nicht so, dass ich es ganz uneigennützig mache.“ Dennoch steht für ihn mehr im Vordergrund, einsamen Menschen die Hand zu reichen. „Ich möchte den Menschen mitgeben: Ich bin zwar nicht der Familienersatz, aber ich kann für dich da sein.“

Projektkoordinator Andreas Browa betont: „Das hier ist kein Therapieprogramm, jeder muss sich einbringen.“ Aktuell suchen die Verantwortlichen noch weitere Mitstreiter jeden Alters und jeglicher Herkunft, die sich einbringen möchten. Voraussetzung sind gute Deutschkenntnisse, Lebenserfahrung und soziale Kompetenz. Der Umfang der Tätigkeit: mindestens fünf Stunden pro Woche (eingeschlossen sind hierbei Betreuung und Supervision), die Einsatzzeiten sind flexibel und können individuell vereinbart werden. Interessierte können sich bei Projektkoordinator Andreas Browa melden unter a.browa@initiative-azh.de oder telefonisch unter 0155/603 108 98.

Das Projekt läuft bis Mai 2027 und wird gefördert durch die Deutsche Fernsehlotterie, Schirmherr ist Professor Michael Schulz, Generalintendant des MiR.