Gelsenkirchen. Dramatische Zahlen: 250 bis 300 Menschen in Gelsenkirchen sterben pro Jahr vereinsamt, mitunter monatelang unentdeckt. So wird für sie gesorgt.
Es ist wohl der traurigste Rekord dieser Stadt: Ein Mensch stirbt in seiner Wohnung und es braucht 268 Tage, bis sein Tod überhaupt bemerkt wird. 268 Tage, an denen dieser Mensch von niemandem vermisst wurde. 268 Tage, an denen dieser Mensch nirgendwo fehlte. 268 Tage, das sind fast neun Monate.
Einsamkeit in Gelsenkirchen: Auch nach dem Tod vermisst sie niemand
Konkreter wird es mit der Geschichte des 61-jährigen Willi B., aufgeschrieben auf der Homepage des Gelsenkirchener Vereins „Ruhe-Steine“: Willi B.‘s Post quoll mehr als drei Monate lang aus dem Briefschlitz, fiel ungeöffnet in den Hausflur. „Im Haus an der Uechtingstraße, Ecke Hülsmannstraße ist das niemandem aufgefallen“, heißt es auf der Seite. Und weiter: „Selbst der langjährige Postbote aus Schalke-Nord hat nichts bemerkt: ‚Hier liegt immer jede Menge alte Post und Müll‘, sagte er. Bis es dann anfing, bestialisch zu stinken.“ Die Leiche von Willi B. sei nur wegen einer anstehenden Zwangsräumung entdeckt worden.
Immer mehr Menschen können nicht für das eigene Begräbnis vorsorgen, es sich schlicht nicht leisten – aus den mannigfaltigsten Gründen. Und immer mehr Menschen leben einsam und alleine, zurückgezogen und ohne menschliche Bindung zur Außenwelt. Der Verein Ruhe-Steine, gegründet 2011, hat es sich zur Aufgabe gemacht, für eben diese Menschen auch nach dem Tod zu sorgen. Denn eigentlich würde für sie eine Begräbnisstätte ohne Grabstein bleiben, die Kosten für die Bestattung getragen vom Ordnungsamt.
„Verschwindet ein Name, schwindet auch die Erinnerung an Menschen“
„Diese Menschen verlieren damit nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Armut ihren Namen. Name und Erinnerung sind eng miteinander verbunden. Verschwindet ein Name, schwindet auch die Erinnerung an Menschen, die mit uns in Gelsenkirchen viele Jahre gelebt haben“, sind die Verantwortlichen des Vereins überzeugt. „Wir wollen nicht, dass sie, weil sie arm gestorben sind, namenlos werden.“
Es ist ruhig und fast schon idyllisch, an diesem Vormittag auf dem parkähnlichen Westfriedhof in Heßler. Hier und da pflegen ein paar Angehörige ein Grab, zupfen Unkraut. Entlang des Hauptwegs dauert es ein paar Minuten, bis man ein besonderes Gemeinschaftsgrabfeld erreicht. Im Sommer 2021 wurde es dort eingerichtet, ist neben dem Feld auf dem Hauptfriedhof in Buer das zweite dieser Art in Gelsenkirchen. Ralf Berghane vom Katholischen Stadtdekanat Gelsenkirchen und Andreas Mäsing, Geschäftsführer der FGG Friedhofsgärtner Gelsenkirchen, haben eine Grableuchte mitgebracht, stellen sie auf einen der vielen Ruhe-Steine, stellvertretend für all die anderen ein Andenken.
250 bis 300 Menschen sterben in Gelsenkirchen jedes Jahr in Einsamkeit
In Gelsenkirchen müssten etwa acht bis zehn Prozent aller Verstorbenen ordnungsbehördlich bestattet werden, berichten Berghane und Mäsing. Hinter dem nüchternen Begriff „ordnungsbehördliche Bestattungen“ stecken (schwere) Schicksale: Etwa 250 bis 300 Menschen pro Jahr sterben in dieser Stadt vereinsamt und haben niemanden, der die Bestattung übernehmen kann, der bestattungspflichtig ist – also beispielsweise Ehegatten, Lebenspartner, volljährige Kinder, Eltern oder volljährige Geschwister oder Enkel. Knapp 15 Prozent derjenigen, die ordnungsamtlich bestattet werden, weisen eine „Liegezeit“ zwischen acht Tagen und mehreren Monaten nach dem Tod auf, ohne dass dieser überhaupt bemerkt wird.
Eine ordnungsbehördlich Bestattung bedeute aber nicht – wie in vielen anderen Städten – irgendwo, irgendwie, anonym und so billig wie möglich vergraben zu werden, erläutern Mäsing und Berghane. „Hier geht niemand unter die Erde ohne Seelsorger“, weiß Friedhofsgärtner Andreas Mäsing. Hierfür arbeiten die Stadt, die Kirchen und eben „Ruhe-Steine“ zusammen. In einem würdigen Rahmen werden die Einsamen unter seelsorgerischer Begleitung auf dem Gemeinschaftsgrabfeld beigesetzt. Finanziert von „Ruhe-Steine“ erhält jeder Verstorbene einen Grabstein, versehen mit seinem Namen und seinen Lebensdaten.
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„Einsamkeit hat kein Alter und keinen Vermögensstatus“, weiß Andreas Mäsing. Die Menschen, die ihre letzte Ruhe in Buer oder Heßler finden, wären mitunter auch sehr gut situiert, mit Einfamilienhaus oder größer – „das spielt alles keine Rolle“, ergänzt Berghane. Und trotzdem lässt es die beiden bei allem Engagement nicht los: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die ungeliebt sind“, sagt Ralf Berghane. Schwierig nachzuvollziehen sei für Andreas Mäsing, dass niemand den Tod eines Menschen bemerkt.
Lässt man den Blick über dieses besondere Grabfeld der Toten mit Namen schweifen, wird schnell bewusst, wie viele es sind. Und dann bleibt das Auge hängen, an einigen Grableuchten, an einigen kleinen Erinnerungsstücken, platziert an den Ruhe-Steinen oder darauf. Es denkt also doch noch jemand an den einen oder anderen, es gibt also doch noch Menschen, die sich erinnern. „Es ist nicht selten, dass Angehörige auch erst nach dem Tod auftauchen“, berichtet Ralf Berghane.