Gelsenkirchen. Eine Gelsenkirchenerin wird niedergestochen, aber sie überlebt. Jetzt steht ihr heimlicher Geliebter vor Gericht. Femizide schocken die Stadt.

Am Orange Day, dem internationalen Tag gegen Frauengewalt, steht ein 35-jähriger Gelsenkirchener in Essen vor dem Landgericht und muss sich verantworten, weil er seine Geliebte fast getötet hätte. Als die Polizei an jenem Tag eintraf, war schon alles voller Blut. Vor rund sechs Monaten ist im Gelsenkirchener Stadtteil Neustadt eine dreifache Mutter niedergestochen worden. Seit Montag steht ihr heimlicher Geliebter wegen Mordversuchs vor Gericht. Er spricht von einem Unfall.

Es war der 25. Mai, als der Angeklagte gegen 1.30 Uhr an der Haustür seiner Partnerin auftauchte. Die beiden hatten drei Jahre lang eine heimliche Beziehung geführt. Jetzt wollte sie sich trennen – er wollte eine letzte Aussprache.

„Sie sollte denselben Herzschmerz spüren, den ich gespürt habe“, sagte der 35-Jährige den Richtern am Essener Schwurgericht. Nach seinen Angaben wollte er sich vor ihren Augen eine Tätowierung mit ihrem Namen aus der Brust schneiden – mit dem abgebrochenen Hals einer Wodkaflasche. Dazu ist es dann allerdings nicht gekommen.

Was tatsächlich passierte, ist umstritten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die 50-Jährige zu ihrer Haustür gekommen ist. Kurz darauf soll ihr der Angeklagte mit einem Cuttermesser eine lebensgefährliche Verletzung oberhalb der Brust zugefügt haben. Eine Arterie wurde durchtrennt. Ohne Behandlung wäre sie gestorben, heißt es in der Anklage. Der ganze Hausflur war voller Blut.

Angeklagter hatte Trennung nicht akzeptiert

Laut Anklage hatte der 35-Jährige den Verdacht, dass seine Partnerin einen anderen Mann kennengelernt hat. Das wollte er angeblich nicht akzeptieren. „Er wollte die aus seiner Sicht ihm gehörende Frau bestrafen“, heißt es in der Anklage.

Der 35-Jährige selbst spricht von einem Gerangel. Dass er seine heimliche Partnerin verletzt hat, will er gar nicht mitbekommen haben. „Ich habe kein Blut gesehen“, sagte er den Richtern. Was verwundert: Nach der Bluttat hatte die 50-Jährige versucht, ihren heimlichen Geliebten zu decken. Gegenüber der Polizei sprach sie von einem Unbekannten aus dem Obdachlosenmilieu, der bei ihr geklingelt und sofort zugestochen hätte.

Das wollten die Beamten jedoch nicht glauben. „Das ergab für mich überhaupt keinen Sinn“, sagte ein erfahrener Polizist den Richtern. „So was hatte ich noch nie erlebt.“ Es dauerte dann auch nicht lange, bis die ersten Hinweise auf den Angeklagten fielen. Die Festnahme erfolgte in Dortmund – mitten auf der Straße. Die Polizei hatte das Handy des 35-Jährigen geortet.

Liebesbriefe ins Gefängnis - trotz der Bluttat

Trotz der Bluttat scheint die Liebe noch immer nicht verblasst zu sein. Nach Angaben von Verteidiger Iyad Nassif bekommt der Angeklagte immer wieder Liebesbriefe ins Gefängnis geschickt. Der Prozess wird fortgesetzt. Mit einem Urteil ist voraussichtlich in der zweiten Dezemberhälfte zu rechnen.

Weitere Femizide erschütterten Gelsenkirchen im Jahr 2024

Neben dem nun vor dem Landgericht verhandelten Fall hat die Redaktion Kenntnis von zwei weiteren getöteten Frauen und einer schwer verletzten in Gelsenkirchen allein in diesem Jahr. Im Sommer erschütterte die Stadt ein Fall, bei dem eine 36-Jährige in Erle getötet wurde. Wenig später wurde der ehemalige Partner der getöteten Gelsenkirchenerin, ein 38-jähriger Deutscher, festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht.

Nur zwei Tage zuvor wurde eine 35-jährige Frau in Polsum bei einem Streit von ihrem 29-jährigen Partner schwer verletzt. Der Mann habe versucht, sie zu töten, berichtete die Polizei. Doch der 35-Jährigen gelang die Flucht aus der Wohnung, wo Passanten auf sie aufmerksam wurden.

Mitte Juli wurde in Schalke eine junge Mutter mutmaßlich von ihrem Mann niedergestochen und getötet. Der dringend tatverdächtige Ehemann ist zunächst geflüchtet, wurde aber wenig später in Belgien festgenommen. Die drei traumatisierten Kinder sind seither in der Obhut des Gelsenkirchener Jugendamtes.

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Bis heute ist auch der Fall der früheren Gelsenkirchener Polizistin, Annette Lindemann, ungeklärt. Im Frühsommer 2010 verschwand die ehemalige Polizistin aus Gelsenkirchen spurlos von einem auf den anderen Tag. Obwohl es keine eindeutigen Beweise gibt, sind sich die Ermittler sicher: Annette Lindemann ist tot, wurde umgebracht von ihrem Ehemann, einem früheren Polizeibeamten.

Gelsenkirchen gehört laut Gleichstellungsatlas der Landesregierung zu den Städten in Nordrhein-Westfalen mit dem höchsten Gefährdungspotenzial für Frauen, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden. Im Jahr 2023 gab es laut der Polizeikriminalstatistik in Gelsenkirchen 1273 Fälle häuslicher Gewalt, darunter drei „Straftaten gegen das Leben“ - also unter anderem Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung. Auch wenn die Gesamtzahl im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken war, war sie weiterhin hoch. In 75 Prozent der Fälle waren Frauen Opfer.