Gelsenkirchen. 43 Prozent der Grundschüler haben Sprachdefizite, und zwar nicht nur Zugewanderte, betont ein Gelsenkirchener Bildungsexperte. Was er rät.

Warum müssen immer mehr Kinder in Gelsenkirchen schon die erste Klasse der Grundschule wiederholen? Was sind die Gründe, Ursachen und wie wirkt sich das auf die Situation in den Grundschulen aus? Das waren die Ausgangsfragen, die die WIN-Fraktion im Bildungsausschuss stellte. In der jüngsten Sitzung des Bildungsausschusses versuchte Schulamtsdirektor Fridtjof Unger – soweit möglich – Antworten darauf zu geben.

Zahlen zu einem Zusammenhang von Kitabesuchsdauer und Sprachkenntnissen in Gelsenkirchen, nach denen die WIN ebenfalls fragte, lägen ihm nicht vor, eine Rolle spiele dieser aber sicher, wie einige Studien andernorts belegten. „Es gibt Studien, die einen positiven Effekt von vorschulischer Bildung auf Schulleistungen belegen, allerdings nicht uneingeschränkt. Es wirken also nicht alle Programme bei allen Kindern“, so Unger. Die WIN hatte Berichte aus Herne zitiert, nach denen ein langer Kitabesuch dort extrem starke Positivwirkungen auf die Sprachentwicklung festgestellt wurde.

Zuwanderung ist nicht der einzige Grund für Sprachdefizite und längere Grundschulzeit

Fest steht aber Ungers Überzeugung nach, dass Sprachdefizite und damit verbundene Lerndefizite, die zu einer dreijährigen Schuleingangsphase führen, nicht allein bei der hohen Zahl der zugewanderten Kinder zu finden sind. Ein Indiz dafür sieht er im Anteil der Kinder, die drei Jahre für die Schuleingangsphase benötigen. In Gelsenkirchen waren das zum Beispiel im Jahr 2022/23 7,49 Prozent der Grundschüler, in Duisburg mit seiner Gelsenkirchen sehr ähnlichen Struktur und vergleichbaren Zuwanderungszahlen „nur“ 5,9 Prozent, im strukturstärkeren Münster hingegen 6,1 Prozent.

Anna Bartholomé (AUF) verwies zum einen auf den Mangel an ausreichenden Kitaplätzen, vor allem aber auf viel zu hohen Hürden bei der Anmeldung zur Kita für zugewanderte Familien, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Eine Anmeldung ist aktuell allein Online über das Portal möglich. Eine bei Sprachproblemen unterstützende Anlaufstelle wie das Familienbüro könnte die Zahl der Kinder ohne Sprachkenntnisse, die eine Kita besuchen, deutlich erhöhen, ist sie sicher. Tatsächlich hatte auch die ehemalige Gesundheitsreferatsleiterin Emilia Liebers, die über Jahre die Schuleingangsuntersuchungen betreute, eine ähnliche Einschätzung abgegeben.

Bildungsexperte: „Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Kinder die Zeit nehmen“

Unabhängig von den Gründen dafür, das Kinder heute mehr Zeit benötigen, um Basiskenntnisse zu erwerben, sieht Fridtjof Unger diese längere Lernzeit in der Schuleingangsphase positiv. „Ich würde mir wünschen, dass mehr Kinder in Gelsenkirchen sich die Zeit dafür nehmen“, versicherte der Sonderpädagoge, ehemalige Schulleiter und mittlerweile für die Schulaufsicht Münster tätige Unger. Es geht nicht um eine „Wiederholung, die es zu vermeiden gilt, sondern um ein Anrecht der Kinder, die Schuleingangsphase in einer für sie passenden Zeit zu durchlaufen“, erläuterte er seine Sicht darauf. Mit den notwendigen Grundlagen könne das Lernen im Verlauf der weiteren Schulkarriere erfolgreicher werden.

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Die Ursachen für die Entwicklung und mögliche Abhilfe soll mit einem soeben anlaufenden Modellprojekt auch an sechs Gelsenkirchener Grundschulen – der katholischen Grundschule Liebfrauenstraße, Schloss Horst, KGS Sandstraße, der Nordsternschule, Grundschule am Lanferbach und der Grundschule Albert-Schweitzer-Straße – ermittelt werden. Es handelt sich um ein digitales Screening, das das Bildungsministerium an insgesamt 130 Grundschulen in NRW gestartet hat. Es ermittelt sprachliche Kompetenzen systematisch und wertet diese unmittelbar aus. In der Folge sollen die Kinder passgenaue Übungen bekommen für die Bereiche, in denen sie Unterstützungsbedarf haben. Noch aber gebe es technische Probleme bei der Umsetzung, schilderte Unger den Stand der Dinge im Ausschuss.

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Jan-Philipp Schaaf (Grüne) verwies bei der Diskussion im Ausschuss auf die räumlichen und personellen Probleme, die der längere Verbleib so vieler Kinder in der Grundschule verursache. Das aber mag Unger nicht gelten lassen. „Das müssen wir schaffen, genügend Kapazitäten bereitzustellen. Es ist extrem herausfordernd, aber dafür gibt es keine Alternative“, betont er. Ein vorhandenes, aber zu knapp ausgestattetes Mittel, um erkannte Sprachdefizite von Kindern vor dem Schuleintritt zu lindern, sind die Erdmännchengruppen. 51 davon gibt es aktuell in Gelsenkirchen. In ihnen werden Kinder, die keine Kita besucht haben, gezielt vorbereitet.

Den Verdacht, dass eine schwierige Unterrichtssituation in Gelsenkirchen dazu beitrage, dass aus dem Münsterland abgeordnete Lehrkräfte nach Ablauf der Befristung nicht in Gelsenkirchen bleiben, sondern zurückkehren, mag Unger nicht bestätigen. „Die Kolleginnen und Kollegen berichten, dass sie sehr gerne an unseren Schulen unterrichten. Ihr Lebensmittelpunkt liege eben woanders, das nennen die meisten als Grund.“