Gelsenkirchen. Kurz vor Schuleintritt zeigen Gelsenkirchens Kinder zum Teil dramatische Defizite. Die Ursachen und auch Lösungen sind erstaunlich eindeutig.

Gelsenkirchener Vorschulkinder weisen bei den Einschulungsuntersuchungen mehr Entwicklungsdefizite auf als Kinder im Landesdurchschnitt. Darüber hat diese Redaktion viel berichtet. Die Gründe sind vielfältig. Gelsenkirchens Sozialstruktur ist einer der Hauptgründe, zu mindestens gleichen Teilen allerdings ist es der fehlende oder zu kurze Kitabesuch. Die wahren Gründe für Letzteres sind allerdings ein wenig anders gelagert als häufig behauptet.

Die Einschätzung, dass Eltern mit Migrationshintergrund grundsätzlich ihr Kind lieber nicht in die Kita schicken, sondern daheim betreuen, ist immer noch verbreitet. Doch diese Beobachtung kann das Team des Gesundheitsamtes um Referatsleiterin Emilia Liebers und die Abteilungsleiterin des Kinder- und Jugendmedizinischen Dienstes, Dr. Christiane Hinney, nicht oder nur sehr bedingt teilen. „Die allermeisten Eltern wollen ihr Kind in die Kita bringen. Auch die Eltern mit Migrationshintergrund. Aber viele bekommen einfach keinen Platz“ sagt Emilia Liebers.

Referatsleiterin Liebers: „Es gibt einfach zu wenige Kita-Plätze“

Es gebe zwar auch Eltern, die es nur bei einer einzigen Kita in der Nähe versuchten und dann nicht mehr oder sich erst spät meldeten, weil Ihnen die Zugangswege fremd seien. „Aber insgesamt gibt es einfach zu wenige Kita-Plätze für über Dreijährige, vor allem seit auch U3-Plätze ausgebaut wurden. Die Stadt baut viele Kitas, unternimmt große Anstrengungen, aber es werden auch immer mehr Kinder“, ergänzt die Ärztin. Fakt ist: Es gibt zu wenige Kita-Plätze in der Stadt. Für 85 Prozent der über Dreijährigen stand Ende 2022 ein Kita-Platz zur Verfügung, 24 Prozent der U3-Kinder können versorgt werden.

Manche Familien mit niedrigerem Bildungsniveau, Geflüchtete und Zuwanderer könnten aber auch aus Unkenntnis der Zugangswege oder Sprachschwierigkeiten auf dem Weg zum Kita-Platz scheitern oder erst recht spät einen Platz bekommen. Dabei ist gerade für diese Gruppe der Kita-Besuch umso wichtiger.

„Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand der Eltern und Defiziten von Vorschulkindern im visuomotorischen Bereich, dem Bereich, in dem Gelsenkirchener Kinder bei den Voruntersuchungen besonders schlecht abschneiden“, erklärt Christiane Hinney. Visuomotorik meint die Hand-Auge-Koordination; dazu gehört, einen Stift richtig halten, etwas (ab)malen sowie gerade und diagonale Linien zeichnen – „DIE Grundlage fürs Schreiben“, betont Liebers.

Sehr starker Zusammenhang zwischen dem Kitabesuch und Entwicklungsdefiziten

11,9 Prozent der Kinder mit einer Mutter mit Fachhochschulreife zeigen Auffälligkeiten bei der Visuomotorik. Bei Müttern ohne Schulabschluss steigt der Anteil auf nahezu 50 Prozent. NRW-weit liegt der Gesamtdurchschnitt von Defiziten in dem Bereich bei 15,4 Prozent. Ähnlich eindeutig verknüpft sind die Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Dauer des Kita-Besuches.

Referatsleiterin Emilia Liebers (links) und die neue Leiterin des Kinder- und Jugendmedizinischen Dienstes, Christiane Hinney, sehen den fehlenden oder zu kurzen Kitabesuch als Hauptursache vieler festgestellter Defizite bei Kindern. Gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen mit seiner Sozialstruktur sei frühkindliche Förderung besonders wichtig.
Referatsleiterin Emilia Liebers (links) und die neue Leiterin des Kinder- und Jugendmedizinischen Dienstes, Christiane Hinney, sehen den fehlenden oder zu kurzen Kitabesuch als Hauptursache vieler festgestellter Defizite bei Kindern. Gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen mit seiner Sozialstruktur sei frühkindliche Förderung besonders wichtig. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Im Bereich Visuomotorik haben nur 16,6 Prozent der Kinder, die länger als drei Jahre in der Kita waren, einen Rückstand. Dort würde so ein Rückstand auch früher entdeckt und zu beheben versucht. Der Anteil der Auffälligkeiten steigert sich über 25,7 Prozent (zwei bis drei Kita-Jahre) und 41,4 Prozent (weniger als zwei Jahre) auf 67,7 Prozent bei Kindern ohne Kitabesuch. Die Visuomotorik ist auch der Bereich, in welchen die Defizite in den letzten Jahren besonders stark gestiegen sind.

Im Bereich „Visuelles Wahrnehmen“ (erkennen gleicher Formen und Unterschiede), Zählen und bei der Beweglichkeit/Körpermotorik gab es zuletzt positive Tendenzen. Bei Letzterer zeigen sich zwar auch Unterschiede abhängig von der Dauer des Kita-Besuches, jedoch nicht ganz so extrem. Diese Zahlen liegen zwischen 7,8 und 14,9 Prozent.

Die Gesamtzahlen stammen aus dem Jahr 2020; neuere Ergebnisse liegen dem Referat wegen der nur schwerpunktmäßig möglichen Untersuchungen in der Corona-Zeit nicht vor. Die Tendenz zur besseren Beweglichkeit (Hüpfen auf einem Bein) könnte der Ausweitung von Bewegungs-Kitas in der Stadt verdankt sein, vermuten die Expertinnen.

Test ist zu sehr auf bürgerliche Familien zugeschnitten

Den Vergleich Gelsenkirchener Testergebnisse mit denen auf Landesebene hält Christiane Hinney für wenig aussagekräftig: „Sobald einer von sieben Testbereichen auffällig ist, gilt der ganze Test als auffällig. Das gibt ein falsches Bild. Zudem werden die extrem unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Gelsenkirchener Kinder im Vergleich zu anderen in Städten mit einer viel bürgerlicheren Struktur überhaupt nicht berücksichtigt.“

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Auch die Art der Testung schafft nach Einschätzung von Dr. Hinney nicht wirklich Vergleichbarkeit. „Beim Spielen gibt es kulturelle Unterschiede. Die standardisierten Tests sind auf Kinder aus bürgerlichen Haushalten zugeschnitten, mit dem Spielzeug, das dort üblich ist. Aber selbst für diese sind die Tests nur noch bedingt zeitgemäß“, erklärt sie. Da gilt es zum Beispiel Sandspielzeuge im ältlichen Design zuzuordnen – Schaufel, Eimer und Co. zum Beispiel oder Werkzeuge, die im Alltag vieler Kinder heute kaum eine Rolle spielen. Neue mögliche Fähigkeiten hingegen, die durch moderne Spielsachen gefördert werden, sind keine Testbestandteile.

An einer Aktualisierung der Tests werde gemeinsam mit der Universität Bremen zwar gearbeitet; bis diese vorliegen, dürften jedoch Jahre vergehen. Hieran beteilige sich „der Kinder- und Jugendmedizinische Dienst in Gelsenkirchen maßgeblich, um die tatsächlichen Bedarfe und auch positive Entwicklungen wie im Bereich der Körperkoordination besser abbilden und für kommunale Planungen nutzen zu können“, so Christiane Hinney. Auch ohne diese Ergebnisse steht jedoch wohl fest: Mehr Kita-Plätze können viele Probleme lösen.