Gelsenkirchen. Aus Gelsenkirchens Jugendamt kommt ein emotionaler Brandbrief. Sozialarbeiter warnen: „Der Kinderschutz kann nicht mehr sichergestellt werden.“

Vor genau zweieinhalb Jahren schlugen Mitarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamtes im Gespräch mit der WAZ Alarm. „Schlimme Dinge werden passieren“, warnten die verzweifelten Sozialarbeiter, die Tag für Tag im sogenannten Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) dort zum Einsatz kommen, wo nicht selten das Wohl von Kindern und Familien akut in Gefahr ist. Wie dramatisch die Situation weiterhin ist, zeigt sich jetzt in einem Brandbrief der Beschäftigten an Oberbürgermeisterin Karin Welge.

„Wir löschen nur noch Brände, einen nach dem anderen“, berichteten die Sozialarbeiter 2022. Präventiv mit Familien zu arbeiten, bevor die Situation eskaliert – das sei kaum möglich. 70 bis 90 Fälle türmen sich auf dem Tisch eines jeden Mitarbeiters, hieß es. Dabei empfehlen Experten eine Fallzahlgrenze von 28 bis 40. Damals hofften die Sozialarbeiter, dass, wenn öffentlich wird, wie es um das Jugendamt „wirklich steht“, die Verantwortlichen in Stadtverwaltung und Politik Abhilfe schaffen würden. 

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Tatsächlich stellte die Stadtspitze dann auch ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung der Situation im ASD vor. Es wurden zusätzliche Stellen im ASD ausgeschrieben, ehemalige Kräfte aus dem Ruhestand wurden aktiviert, oder Aufgaben an freie Träger ausgelagert. Doch heute, mehr als zwei Jahre später und unter neuer Führung, ist die Situation im Jugendamt offenbar schlimmer denn je.

Mitarbeiter im Jugendamt „stehen der Situation ohnmächtig gegenüber“

In dem Brandbrief an OB Welge (SPD), der dieser Redaktion vorliegt, schildern Mitarbeiter des ASD offen und unmissverständlich ihre Verzweiflung und Sorge: „Der ASD kann schon länger seinen gesetzlichen Aufträgen nicht mehr nachkommen und ist mittlerweile kollabiert. Wir MitarbeiterInnen stehen der Situation ohnmächtig gegenüber“, heißt es darin.

Was das bedeutet? Nichts weniger, als dass „der Kinderschutz nicht mehr sichergestellt werden kann“, warnen die Sozialarbeiter.

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Die ohnehin kaum erträgliche Situation im Jugendamt werde zusätzlich dadurch erschwert, dass inzwischen „zeitweise 350 Träger angefragt werden müssen, um ein Kind oder Jugendlichen unterzubringen.“ Dass das viele Kapazitäten bindet, liegt auf der Hand. Mitunter gehe es in Gelsenkirchen aber schon so weit, dass Jugendamtsmitarbeiter mit schwer vermittelbaren Kindern sogar in der Dienststelle oder einem Hotel übernachten müssten, bis endlich eine Einrichtung gefunden wurde, die sich weiter um das Kind kümmert.

„Die Belastung für uns Mitarbeiter ist katastrophal und nicht aushaltbar. Die gesundheitliche Situation der MitarbeiterInnen ist besorgniserregend“, bringen die Betroffenen ihre Situation auf den Punkt.

Beschäftigte warnen: Durch Überbelastung passieren mehr Fehler im Jugendamt

Die Folge: Es fallen zunehmend Mitarbeiter krankheitsbedingt aus oder wollen kündigen, der Druck steigt weiter und mit schwindenden Kräften steigt die „Fehlerquote“. Und obwohl immer wieder auf die akuten Missstände hingewiesen worden sei, fühlen sich die Mitarbeiter nur „vertröstet und hingehalten“.

„Die Lage hat sich in den letzten Jahren weiter verschlechtert, wir sind handlungsunfähig und können den Kinderschutz nicht mehr vollständig gewährleisten“, heißt es in dem Brief an Karin Welge - verbunden mit der Hoffnung, dass die Oberbürgermeisterin „eingreift und schnell wirksame Maßnahmen“ ergreift. OB Welge hatte bereits den Maßnahmenkatalog 2022 mit den Worten vorgestellt: „Es gibt hier leider keine einfachen und schnellen Lösungen.“

 „Zerreißprobe“: Was das für Jugendamt Gelsenkirchen bedeutet

Dass es grundsätzlich weiterhin nicht besonders gut um das hiesige Jugendamt steht, hatte auch Björn Rosigkeit kürzlich im WAZ-Gespräch nicht bestritten. Als er sein neues Amt im November 2023 in Gelsenkirchen antrat, lag gerade die neue Personalbemessung durch das Frankfurter ISS-Institut für den ASD vor, die den Bedarf ermitteln sollte. 148 Stellen sollten es sein, errechnete, das ISS, 25,75 mehr als bisher an Planstellen vorhanden. Längst sind nicht alle Stellen besetzt, werden noch fast 30 Mitarbeiter gesucht. „Die Fluktuation ist aber auch sehr hoch“, beklagen die Gelsenkirchener Sozialarbeiter, was zusätzlich für Belastung sorge.

Björn Rosigkeit (hier mit Bildungsdezernentin Anne Heselhaus) ist neuer Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes.
Björn Rosigkeit (hier mit Bildungsdezernentin Anne Heselhaus) ist neuer Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Der (neue) Jugendamtsleiter weiß um die hohe Belastung des ASD, weshalb er gerade hier für Abhilfe schaffen wolle, sagte Rosigkeit der WAZ im August. Bei der Ausstattung des Teams mit Dienstwagen etwa hat sich bereits etwas getan, aber auch die Anschaffung von Laptops für jeden, um eine doppelte Dokumentation weitestgehend vermeiden zu können, könne Entlastung schaffen, glaubt Rosigkeit.

„Das ist ja alles auch okay“, sagt ein ASD-Mitarbeiter, aber „das ist noch nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dabei brennt das Haus!“

Die Stadt hat mittlerweile auf die Kritik aus dem Brandbrief reagiert. Mehr lesen Sie hier: Stadt Gelsenkirchen erklärt: Kinderschutz ist gewährleistet.