Gelsenkirchen/Israel. Überlebende des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober erinnern sich an den Tag, der Israel erschütterte und ihr Leben für immer veränderte.
„Dieser Tag hat unser Leben für immer verändert“, sagen Shenhav und Bar, Überlebende des barbarischen Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023. Es war ein Tag, an dem die Hamas Menschen in Israel systematisch tötete, quälte, vergewaltigte und demütigte. Der Angriff nahm unter anderem im Dorf von Shenhav und Bar, dem Kibbuz Nahal Oz, der Heimat von 450 Menschen, unweit der Grenze zu Gaza, seinen ungeheuerlichen Anfang. Im Gespräch mit der WAZ erinnert sich das junge Paar, das anlässlich des Jahrestages des Terrorangriffs am Dienstag an einer Diskussion in der Gelsenkirchener Synagoge teilnimmt, an die schrecklichen Stunden des Angriffs.
„Am 7. Oktober war Nahal Oz einer der ersten Orte in Israel, der von der Hamas überfallen wurde. Mehr als hundert bewaffnete Terroristen drangen in den kleinen Kibbuz ein, mit dem Ziel, uns zu töten und zu entführen“, sagt Bar. Mehr als 18 Stunden hielt er sich mit seiner damaligen Freundin und heutigen Verlobten in einem Safe Room versteckt und überlebte so den Angriff.
Gleichzeitig führte über viele Stunden der Selbstverteidigungstrupp des Dorfes – bestehend aus Kibbuz-Bewohnern, gemeinsam mit ein paar Grenzschutzsoldaten, die in der Nähe stationiert waren – einen erbitterten Kampf gegen die Terroristen und versuchte, den Angriff abzuwehren. Doch die Terroristen waren über Stunden in der Überzahl, verbreiteten im Kibbuz von Haus zu Haus Angst und Schrecken und ermordeten 13 Bewohnerinnen und Bewohner.
Shenhav und Bar wussten zunächst lange nicht, was genau sich an diesem Morgen in ihrem Dorf und weiten Teilen Israels abspielt. „Wir haben unentwegt Schüsse und Explosionen gehört und auch Männer, die Arabisch sprachen. Natürlich hatten wir schnell verstanden, dass offensichtlich Hamas-Terroristen in unseren Kibbuz eingefallen waren, aber das wahre Ausmaß des Angriffs wurde uns erst im Laufe des Tages gewahr“, berichtet Shenhav. Mit jeder weiteren Horrornachricht, die auf ihrem Handy eingeht, verliert die 26-Jährige den Glauben daran, diesen Tag zu überleben.
„Wir haben uns in die Augen geschaut, uns immer wieder gesagt, wie sehr wir uns lieben, wie glücklich wir sind, dass wir einander haben“, erinnert sich Bar. „Wir haben unser Lied gesungen und auf den Tod gewartet“, sagt Shenhav, während sie in Gelsenkirchen ihrem Verlobten in die Augen schaut. Doch es sollte anders kommen. Gegen Mitternacht wird das Paar von israelischen Soldaten evakuiert. Viele andere aus ihrem Kibbuz haben weniger Glück.
Hamas-Terroristen nimmt israelische Familie als Geiseln und streamt es live im Netz
In einem der Häuser des Dorfes nahmen Hamas-Terroristen den Israeli Noam Elyakim, seine Partnerin und die drei Kinder der Familie als Geiseln und übertrugen das ganze live in sozialen Netzwerken im Internet. Der 17-jährige Sohn wurde gezwungen, die Terroristen durch den Kibbuz zu begleiten und Bewohner benachbarter Häuser zum Öffnen ihrer Türen zu bewegen. Noam Elyakim, seine Partnerin und der Sohn wurden später ermordet. Die beiden Töchter der Familie wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, wie israelische Medien berichten.
Der 85-jährige Shlomo Ron, einer der Mitbegründer des Kibbuz, wurde in seinem Haus erschossen, nachdem er zuvor seine Frau, die beiden Töchter und seinen Enkel im Schutzraum des Hauses versteckt hatte. Sie blieben unentdeckt und wurden nach etlichen Stunden von der israelischen Armee befreit - so wie Shenhav und Bar.
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Die Terroristen ermordeten auch zwei Ausländer, die sich an diesem Morgen im Kibbuz aufhielten: einen Landarbeiter aus Thailand und einen Studenten aus Tansania, dessen Leichnam anschließend von der Hamas nach Gaza verschleppt und bis heute nicht herausgegeben wurde.
Sieben Kibbuz-Bewohner werden nach Gaza verschleppt - nur fünf sind bisher zurück
Sieben israelische Kibbuz-Mitglieder – darunter ein achtjähriges Mädchen und eine 84-jährige Frau – wurden nach Gaza verschleppt. Nur fünf Geiseln aus Nahal Oz wurden später im Rahmen eines Geiselabkommens freigelassen. Zwei Geiseln aus der Gemeinde, die Familienväter, Omri Miran und Tzachi Idan, sind immer noch in den Händen der Hamas. Ihre Familien versuchen seither zusammen mit vielen anderen Israelis verzweifelt, die israelische Regierung zu weiteren Geiselabkommen zu bewegen. „Bevor nicht alle Geiseln wieder zu Hause sind, können wir kein normales Leben leben“, sagt Bar, dabei wünscht er sich nichts sehnlicher als das: „Ein normales Leben.“
„Ein Leben in Ruhe, in Frieden, eines, bei dem ich ohne fortwährende Angst mein Feierabendbier genießen und Fußball gucken kann. Ein Leben, in dem ich einfach ich sein kann, ein normaler Mensch“, sagt Bar.
Doch das Trauma des Erlebten wiegt schwer und der Verlust vieler geliebter Menschen schmerzt auch Shenhav und Bar sehr. Das junge Paar ist nach Tel Aviv gezogen, wo Shenhav vor kurzem ihr Ingenieursstudium erfolgreich abgeschlossen und eine Arbeit gefunden hat. Auch Bar geht wieder seiner Ausbildung im Medienbereich des israelischen Fußballverbandes nach.
Und dennoch ist der 7. Oktober für Shenhav und Bar, für Israel wie ein Tag, der nicht enden will. Das Massaker und seine Folgen haben den Nahen Osten tiefgreifend verändert. Unvorstellbares Leid ist in diesem Jahr geschehen, mehr als 1700 Tote auf israelischer Seite, mehr als 41.000 Tote in Gaza, mehr als 1600 Tote im Libanon.
Seit einem Jahr fürchtet die Welt, dass die zahlreichen Konflikte in der Region zu einem großen Krieg heranwachsen, in den auch westliche und arabische Staaten hineingezogen werden könnten. Für den Nahen Osten ist die Lage so gefährlich wie wohl nie seit Jahrzehnten. Mit dieser Angst leben auch Shenhav und Bar - Tag für Tag. „Und dennoch glauben wir, dass ein Frieden zwischen unseren Völkern möglich ist, wenn unsere Feinde akzeptieren, dass wir auch ein Recht auf Leben haben. Wir sind doch alle Menschen“, sagt Bar im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, inmitten einer Ausstellung zum Gedenken an die Opfer des Holocausts. Shenhav sieht sich um und sagt, „wir hören nicht auf, an Frieden zu glauben.“