Gelsenkirchen. Jüdinnen und Juden werden immer wieder angefeindet, weshalb die Gemeinde rät, auf der Straße eher keine Kippa zu tragen. Ein Selbstversuch.

Es dauert nicht lange, bis meine Kopfbedeckung und ich für erste abschätzige Blicke und Gemurmel sorgen. Ein schmächtiger Mann, der schon um 9 Uhr am Vormittag auf den Treppen vor der Augustinus Kirche in der Altstadt Bier in sich hinein kippt, bemerkt mich, kaum dass ich aus der Tür herausgetreten bin. Angesichts seines T-Shirts mit dem Aufdruck einer bei Neonazis beliebten Marke, ahnte ich bereits, dass er auf irgendeine Weise reagieren könnte, sobald er mich sieht.

Ich habe türkische Wurzeln, schwarze Haare, einen schwarzen Bart, was für sich allein genommen schon ein Feindbild für diesen abgehalfterten Mann darstellen dürfte. Als ich an ihm vorbeilaufe, sieht er die weiße Kippa auf meinem Kopf. Er spricht mich nicht direkt an, aber ich höre, was er sagt: „Kanacken-Jude“. Ich drehe mich um, schaue ihm in die Augen. Er sieht verächtlich zurück. Ich will ihn zur Rede stellen, doch er geht Richtung Jobcenter davon. Ich gehe weiter und in meinem Kopf hallt es nach: „Kanacken-Jude.“

Es ist ein Experiment und es hat nur Sekunden gedauert, bis es begann. Die Kippa ist eine Leihgabe der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, die in den Selbstversuch eingeweiht ist. Hintergrund ist ein Disput, der sich vor einigen Wochen im Gelsenkirchener Stadtrat zugetragen hat. Dort stritten die Parteien von ganz links bis ganz rechts über das „Lokale Handlungskonzept gegen Antisemitismus“. In einer hitzigen, mitunter emotionalen Debatte ging es dabei eigentlich nie um die Frage, ob es auch in Gelsenkirchen Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden gibt, sondern je nach Ausrichtung der Parteien hauptsächlich darum, ob nun auch Ultra-Linke antisemitisch sind oder ob das Konzept nicht hätte vor allem Muslime in den Fokus nehmen müssen, weil unter ihnen die meisten Antisemiten zu finden wären. Dazwischen gab es auch viele Grautöne in der Debatte, aber die Frage bleibt: Wie offen erleben Jüdinnen und Juden in Gelsenkirchen den Hass von Antisemiten – gleich welcher Couleur auch immer?

Fakt ist – das berichtete die scheidende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Judith Neuwald-Tasbach, auch im Gespräch mit der WAZ immer wieder –, dass auch von Ückendorf bis Hassel Menschen jüdischen Glaubens angefeindet werden. Obgleich die Solidarität, die die Jüdische Gemeinde erlebt, unweit größer sei als die dunklen, verstörenden, auch die ängstigenden Momente, so rate man auch in Gelsenkirchen Juden in der Öffentlichkeit nicht unbedingt, die Kippa als sichtbares Zeichen ihres Glaubens zu tragen.

Antisemitismus: Zahl der Fälle „extremer Gewalt“ gestiegen

Schließlich erreichte zuletzt auch die Zahl der Fälle „extremer Gewalt“ bundesweit mit neun Fällen einen Höchststand seit Beginn der Erfassung 2017: In diese Kategorie fallen dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus zufolge „potenziell tödliche oder schwere Gewalttaten“. Dazu zählen Schüsse auf das ehemalige Rabbinerhaus in Essen, ein Brandanschlag in Bochum und ein vereitelter Anschlag auf die Synagoge in Dortmund. Und auch der wütende Mob, der im Mai 2021 vor die Synagoge in Gelsenkirchen zog und seine Wut auf Israel durch Hasstiraden gegen die hiesigen Jüdinnen und Juden äußerte, ist nicht nur den Gläubigen in Gelsenkirchen noch in schmerzhafter Erinnerung.

Das Kippa-Experiment

Natürlich maße ich mir nicht an, die Gefühle, Sorgen und auch Ängste von Jüdinnen und Juden in Gelsenkirchen in Gänze nachempfinden zu können, nur weil ich für ein paar Stunden mit einer Kippa durch Gelsenkirchen gelaufen bin. Und doch hinterlässt auch schon dieser eine Tag Spuren. Denn der Biertrinker vom Morgen bleibt nicht der Einzige an diesem Tag, der seinen Hass offen zeigen wird.

Die überwiegende Mehrheit der Spaziergänger auf der Bahnhofstraße in der Innenstadt reagiert nicht auf die Kippa, nimmt sie wahrscheinlich nicht einmal wahr, nur sehr wenige schauen ein wenig irritiert, gehen aber weiter ihrer Wege.

Die allermeisten Passanten reagieren nicht auf die Kippa. Die Mütze ist die traditionelle religiöse Kopfbedeckung jüdischer Männer. Gläubige Juden zeigen damit ihre Ehrfurcht und Demut gegenüber Gott: „Bedecke Dein Haupt, so dass der Segen Gottes auf Dir ruht“, heißt es im Talmud
Die allermeisten Passanten reagieren nicht auf die Kippa. Die Mütze ist die traditionelle religiöse Kopfbedeckung jüdischer Männer. Gläubige Juden zeigen damit ihre Ehrfurcht und Demut gegenüber Gott: „Bedecke Dein Haupt, so dass der Segen Gottes auf Dir ruht“, heißt es im Talmud © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Ich gehe weiter in die Neustadt, hinterm Bahnhof, so wurde mir berichtet, könnte es mit der Kippa auf meinem Haupt ungemütlich werden. Die türkischen Imbisse sind gut besucht, auf den Bänken sitzen zahlreiche Menschen. Es sind hauptsächlich Menschen mit augenscheinlich türkischem, arabischem und südosteuropäischem Migrationshintergrund unterwegs. Ich laufe unbehelligt die Straße auf und ab. Von vorne kann man meine Kippa nicht sehen, aber mein Begleiter, der in einiger Entfernung die Szenerie beobachtet, versichert mir, dass auch die Menschen, die direkt auf das Käppchen schauen, sich nicht weiter dafür oder für mich interessieren. Ich weiß, es ist nur eine Momentaufnahme. Dennoch bin ich erleichtert.

„Yahudi“ - als sei das Wort etwas widerliches, das man ausspucken müsse

Ich spaziere noch eine Weile und gehe dann zunächst zurück in die Redaktion. Am späten Nachmittag setze ich die Kippa noch einmal auf. Ich verlängere meinen Heimweg ein wenig und gehe noch einige Meter in Richtung Musiktheater spazieren. Auf Höhe der Bibliothek höre ich nun wie hinter mir drei Jungs über mich reden. „Yahudi“, (die türkische und arabische Übersetzung für Jude, die Red.) sagt einer. Er spricht das Wort aus, als sei es etwas Widerliches, das er ausspucken müsste.

Ich drehe mich um. Die Jungs sind vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, sie schauen mich verächtlich an. „WAS“, fragt einer. Ich erwidere: „Ja, was für ein Problem habt ihr mit Juden?“.

Ich weiß nicht warum, vielleicht haben die Jungs, als sie die Kippa und mich nur von hinten sahen, nicht einen bärtigen Mann erwartet, der aussieht wie ein Türke. Jedenfalls brechen sie ihre Provokation ab und steigen in die nächste Straßenbahn.

Ich mache kehrt, drehe noch eine Runde. Vor der Moschee an der Mulvanystraße grüßt mich ein junger Mann freundlich. „Selam Aleikum“, sagt er, was so viel bedeutet wie „Friede sei mit dir“ – ganz so wie das hebräische Wort „Shalom“. Ich nicke dem Mann freundlich zu und gehe nach Hause. Ich weiß, ich habe nur einen winzigen Einblick gewonnen, nur einen Hauch einer Ahnung bekommen, was es bedeuten könnte, trüge man zu jeder Tages- und vor allem Nachtzeit und in allen Ecken Gelsenkirchens die Kippa oder einen Davidstern gut sichtbar. Ich weiß, die allermeisten Menschen haben sich daran nicht gestört, aber ich verstehe auch das Unbehagen, die latente Sorge, von der Jüdinnen und Juden berichten. Die Angst davor, seines Glaubens oder seines Aussehens wegen angegriffen, beleidigt und bedrängt zu werden.