Gelsenkirchen. Diese Gelsenkirchener Schule ist Vorreiter bei Sprachförderung und Alphabetisierung. Trotzdem muss man hier zu besonderen Maßnahmen greifen.

Der Flur ist hell und nüchtern. Was auffällt: Die Türen haben keine Klinken, jedenfalls nicht auf der Flurseite. Jedes Klassenzimmer muss eigens aufgeschlossen werden. Warum? „Wir hatten sehr viel Besuch von Eltern, die mitten im Unterricht in die Klasse gestürmt sind, um etwas zu klären, das Kind mitzunehmen oder sich zu beschweren“, erklärt Schulleiter Marco Sawatzki mit großer Selbstverständlichkeit. Tatsächlich klagen auch andere Schulen über solche Übergriffe von Eltern, die bisweilen sogar gewalttätig werden, wenn sie ihr Kind ungerecht behandelt fühlen. Das System Schule und dessen Regeln sind nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern Neuland.

Das ist auch der Grund, warum es hier Klassen gibt, in denen 14-Jährige üben, Buchstaben nachzuspuren, wie es sonst nur Sechsjährige tun. Die meisten drücken hier zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schulbank. Kinder aus Rumänien, Bulgarien, Syrien und auch aus der Ukraine sitzen in dieser „Alpha-Klasse“, einer Alphabetisierungsklasse. Genauer gesagt sind es eigentlich zwei Klassen, die hier gemeinsam lernen, zum Teil mit differenzierten Angeboten.

Jonglieren zwischen extrem unterschiedlichen Ausgangssituationen

Frisch eingereiste Jugendliche sitzen hier neben Kindern, die zum Teil vor fünf Jahren erstmals nach Deutschland kamen, jedoch mit den Eltern immer wieder zurückgegangen sind und auch in ihrer Zeit in Deutschland die Schulpflicht eher als Angebot denn als Pflicht betrachtet haben. Die meisten verstehen ein wenig deutsch, sprechen auch ein paar Worte. Aber auch die neu Zugereisten, die noch nichts von dem verstehen, was die beiden Lehrkräfte an der Tafel erklären, sollen hier etwas lernen.

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Eine unglaubliche Herausforderung für die beiden Pädagoginnen. Immerhin gibt es mittlerweile auch altersangepasste Lernmaterialien. In den ersten Jahren, in denen jugendliche Analphabeten - meist aus Europas Osten - kamen, musste man auf die Bücher für Sechsjährige zurückgreifen. Bärchen und Zwerge für Jugendliche - das steigert nicht gerade den Lerneifer.

Alphabetisierungsklasse in der Hauptschule.
Mittlerweile erleichtern spezielle Lernmaterialien den Unterricht für Kinder, die erst spät Lesen und Schreiben lernen. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Sprachlich helfen die Schüler einander so gut es geht. Übersetzen die Brocken, die sie selbst schon verstehen. Im Arbeitsheft übt jeder und jede nach seinen Fähigkeiten. Als wir in den Unterricht kommen, ist es erstaunlich ruhig. Alle scheinen konzentriert, den Blick auf dem Whiteboard vorne, wo es gilt, ein Silbenpuzzle zusammenzusetzen. Die Feinmotorik erstmal trainieren, Buchstaben schreiben lernen, das müssen alle zunächst. „Dabei fällt den meisten am Ende das Schreiben dann doch deutlich leichter als das Lesen“, erklärt Lehrerin Adelina Miftari.

Am Anfang hat jeder für sich etwas ausprobiert - Netzwerk hilft beim Austausch

Wir sind an einem Freitag vor Ort. Am Ende des Unterrichtstags kommen zwei Mädchen nach vorn. „Morgen Schule?“, fragt Romina (Name von der Redaktion geändert). Adelina Miftari runzelt die Stirn. „Morgen? Welcher Tag ist morgen?“ fragt sie. Romina denkt sichtbar nach, wohl vor allem darüber, wie die Frage zu übersetzen ist. Ihre Freundin hilft. „Samstag.“ Sicherheitshalber greift die Lehrerin neben den Worten auch zu Gesten, hebt zwei Finger, als sie sagt: „Zwei Tage keine Schule, es ist Wochenende.“ Romina (11) hat verstanden. Auch wenn ihr diese Unterscheidung - Werktag und Wochenende - offenbar bisher nicht als so wichtig bewusst war.

Ricarda Brech ist an der Hauptschule am Dahlbusch seit zehn Jahren verantwortlich für den Bereich Internationale Förderklassen (IFÖ-Klassen) und Alpha(betisierungs)-Klassen. Als sie zur Hauptschule am Dahlbusch kam, gab es viel mehr IFÖ-Klassen hier. Passende Lernmaterialien allerdings gab es kaum. Brech baute ein Netzwerk auf mit anderen Schulen aller Schulformen mit IFÖ-Kindern. Bei regelmäßigen Netzwerktreffen tauschte man sich aus über die besten Methoden und Ansätze. Mittlerweile ist das Fördersystem etabliert, Netzwerktreffen gibt es noch immer.

Wie viele einen Abschluss schaffen, weiß niemand - Mit 16 Jahren Wechsel an Berufskollegs

Aber wie gut kann ein Abschluss gelingen bei jungen Menschen, die mit 13 Jahren erst Lesen und Schreiben lernen? „Das ist sehr unterschiedlich. Einige lernen sehr schnell, können nach relativ kurzer Zeit in die IFÖ-Klasse wechseln und von dort aus teilintegriert werden. Aber das gilt natürlich nicht für alle“, räumt Brech ein. Auch bei den IFÖ-Schülern gibt es große Unterschiede. Standardisierte Tests werden genutzt, um zu entscheiden, wer schon reif für eine Teilintegration in einzelnen Fächern ist und wann eine Vollintegration möglich ist.

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Und wie viele der Heranwachsenden, die kurz vor der Pubertät erst Lesen und Schreiben lernen, schaffen einen Abschluss? „Das können wir so genau nicht sagen. Manche schaffen es hier bis zum klassischen Hauptschulabschluss Klasse 9, von den IFÖ-Schülern durchaus einige. Aber viele wechseln, wenn sie 16 Jahre alt sind, an die Berufskollegs“, erläutert Schulleiter Marco Sawatzki. Doch unter den IFÖ-Schülern gebe es einige, die nach Klasse zehn mit Qualifikation noch ihr Abitur an einer Gesamtschule machen.

Die wichtigste Voraussetzung dafür: Dass die Familien in Deutschland bleiben und die Kinder zuverlässig zur Schule kommen. „Das Problem sind nicht die Kinder, sondern die Eltern. Sie zu erreichen und zu motivieren, ihr Kind regelmäßig zur Schule zu schicken, ist das größte Problem“, bringt Marco Sawatzki das Dilemma auf den Punkt.