Gelsenkirchen. Dass der EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens für Gelsenkirchen hart wird, prophezeite OB Welge. Warum wurde die Stadt trotzdem so überfordert?
Die Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien, die mittlerweile seit zehn Jahren uneingeschränkt gilt, und die damit verbundene „Armutsmigration“ nach Gelsenkirchen hat die Stadt vor besonders herausfordernde Probleme gestellt – Probleme, welche die heutige Oberbürgermeisterin Karin Welge ziemlich genau prognostiziert hat. Das geht aus einem zehn Jahre alten, bislang unveröffentlichten Verwaltungspapier hervor, das der WAZ vorliegt.
Darin analysiert Welge in ihrer damaligen Funktion als Sozialdezernentin unter anderem, dass die leerstehenden Schrottimmobilien in Gelsenkirchen ein besonders großer Anziehungspunkt für die Unionsbürger seien, die Integrationsherausforderungen eine nie dagewesene Form annehmen würden und ein groß angelegtes Konzept verschiedenster Fachbereiche vonnöten sei, um die Situation zu bewältigen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit als „enormer Sprengstoff“ für Gelsenkirchen
„Schon damals bei den ersten Diskussionen im Verwaltungsvorstand 2013 hat mich die Frage beschäftigt: Was macht so ein Zuzug mit einer Stadt, die nach einem extremen Schrumpfungsprozess extrem viel Platz hat – bei einem Sozialsystem, das jedem offensteht. Bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, dass hinter den Regeln der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein enormer Sprengstoff für Gelsenkirchen stecken könnte“, betont Welge auch im Rahmen eines Pressegesprächs zum zehnjährigen Bestehen der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der WAZ. Deswegen habe man damals auch reagiert mit – dem „Handlungskonzept zur Zuwanderung im Rahmen der EU-Osterweiterung“.
Kern des Konzepts: eine Bewältigung der Herausforderungen durch Sozialarbeit auf der einen und Härte auf der anderen Seite. Das umschreibt auch die heutige Strategie der Stadt: „Damals wie heute geht es um zwei wesentliche Punkte: erstens, die Integration in die Stadtgesellschaft. Und zweitens, die Wahrung des sozialen Friedens. Die Kernaussage und das Leitmotiv waren damals schon: Wer willkommen geheißen wird, muss sich an Regeln halten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“
Es mangelte nach Welges Auffassung also in Gelsenkirchen weder an Erkenntnissen über die Herausforderungen noch an einer städtischen Strategie – dafür aber sehr wohl an Einsicht auf EU-Ebene sowie an mangelnder Unterstützung für Gelsenkirchen.
OB Welge prangert „politische Naivität“ mit Blick auf Arbeitnehmerfreizügigkeit an
„Soziale Fürsorge, Minderheitenschutz und Minderheitenrechte sind in Rumänien und Bulgarien nur sehr niederschwellig ausgeprägt, insbesondere mit Blick auf die Roms, die eher wandern und keinen festen Wohnsitz haben“, sagt Welge, die unter anderem „Europäische Integration“ studiert hat. Dies sei bei den Gesprächen über den EU-Beitritt beider Staaten verkannt worden – ebenso wie die möglichen Folgen, die eine Migration aus den Staaten für eine strukturell schwache, von Wohnungsleerstand und Arbeitslosigkeit betroffene Stadt wie Gelsenkirchen haben könnte.
„Dass die europäische Freizügigkeitsregelung in Städten mit Grundvoraussetzungen wie Gelsenkirchen nicht funktioniert, scheint nicht einkalkuliert worden zu sein. Es ist aus politischer Naivität nicht beachtet worden“, wird die Oberbürgermeisterin deutlich. „In der Euphorie eines Europas, in dem die ganzen Ostkonflikte nahezu aufgehoben waren, hatte man das Vertrauen, dass alles schon irgendwie klappt. Würde ich es hart formulieren, könnte ich sagen: Wir sind mit wenig anderen Städten dabei die Kollateralschäden gewesen.“
Auch auf bundespolitischer Ebene sei das Interesse an den Gelsenkirchener Problemen gering gewesen. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich zwar 2014 „überreden lassen, einen Staatssekretärsausschuss zu dem Thema Migration aus Rumänien und Bulgarien einzurichten, jedoch sei sie „nach jedem Besuch jedes Mal frustriert zurückgekommen“, erinnert sich Welge. „Und der Ausschuss ist ein Jahr später aufgelöst worden. Warum? Weniger als 20 von 4000 Städten in Deutschland, darunter Gelsenkirchen, waren von den Konsequenzen durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren stark betroffen – offenbar zu wenig, um systemrelevant zu sein.“
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Also ist nach Welges Auffassung das passiert, was sie vor Jahren prophezeite: kaum zu stemmende Integrationsherausforderungen, Konflikte in der Nachbarschaft, Armutsmigration in eine ohnehin arme Stadt. „Als dann zusätzlich zur Migration aus Südosteuropa auch noch die Flüchtlingswelle 2015 kam, hat das die Stadtgesellschaft aufgeschreckt“, analysiert die OB. Und das, obwohl die Stadt ja eigentlich sehr viel Erfahrung mit Migration habe. „Als viele Menschen aus Polen oder der Türkei kamen, da hatten diese Menschen zwar teilweise ähnliche Barrieren, kamen auch aus Armutsregionen, aber dann wurden sie zu Arbeitskollegen – das hat die Integration enorm erleichtert“, stellt Welge fest. „Wenn ich Kollege werde, werde ich zum Nachbarn, dann schafft das Akzeptanz. Wenn das aber nicht passiert, obwohl es eigentlich die Grundlage von Arbeitnehmerfreizügigkeit sein sollte, dann haben Sie ein großes Problem.“
OB Welge: „Wir sind überall gegen Mauern gerannt“
Gelsenkirchen habe dann sein Möglichstes getan, um den Problemen Herr zu werden. „Wir sind aber überall gegen Mauern angerannt“, behauptet Welge und nennt ein Beispiel: „Wenn ich argumentiert habe, dass wir dort, wo unwürdiger Wohnraum ist, keine Miete übers SGB II (Anm. d. Rdk.: Kosten der Unterkunft für Bürgergeld-Empfänger) übernehmen wollen, dann sind wir gescheitert. Ich musste mich teils als Antiziganist beschimpfen lassen, wenn ich auf manche sozialpolitischen Herausforderungen aufmerksam gemacht habe.“
Jüngst hat Welge den Versuch unternommen, in einem Brief an ihre Parteikollegin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), für eine Änderung des Freizügigkeitsrechts zu werben. Ihre Vorstellung: EU-Bürger sollten erst einmal eine existenzsichernde Beschäftigung nachweisen müssen, bevor sie den Arbeitnehmerstatus erhalten. Ein Hintergedanke: So könnte sich eine Stadt wie Gelsenkirchen für die anvisierte EU-Erweiterung wappnen. Denn auch nach Vorstellung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sollen Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Serbien und Nordmazedonien künftig der Staatengemeinschaft angehören. „Wir halten es nicht für realistisch, dass dann eine Wiederholung der Problemlage ausgeschlossen ist“, so Welge.
Es gehe bei der geplanten Aufnahme weitere Balkan-Staaten wieder „um sehr große Argumente wie die Sicherheitsarchitektur Europas“, so Welge. „Das ist nicht unbegründet. Aber die Beitrittsverhandlungen müssen mit weniger Naivität geführt werden, damit Kollateralschäden in Städten wie Gelsenkirchen nicht erneut hingenommen werden.“